Guenzburger Zeitung

„Sie verhielten sich immer feindselig“

Der Missionar John Chau wurde von Angehörige­n des indigenen Volkes der Sentineles­en umgebracht. Nun fragt sich die Polizei, wie die Leiche geborgen werden kann

- VON STEPHANIE LORENZ

Port Blair John Chau hatte Angst vor seiner Mission im Indischen Ozean und ahnte, dass sie ihn das Leben kosten würde. Das belegen Tagebuchei­nträge, die die Washington Post in Auszügen veröffentl­ichte. „Ich will nicht sterben“, schrieb der Missionar in sein Tagebuch, nachdem ein Kind bei einem ersten Versuch Chaus, auf die Insel Nord-Sentinel zu gelangen, einen Pfeil auf ihn geschossen und seine Bibel getroffen hatte. Und doch kehrte der junge Mann zurück auf die Insel der Ureinwohne­r im Indischen Ozean – und wurde getötet. Diese Szene spielte sich nicht etwa vor Hunderten von Jahren ab, sondern vor weniger als zwei Wochen.

Der 27 Jahre alte US-Amerikaner John Chau hatte Fischer angeheuert, ihn auf die Nord-Sentinel-Insel zu bringen. Sie ist Teil der Inselkette der Andamanen, die zu Indien gehört. Er wollte die etwa 50 bis 100 isoliert lebenden indigenen Bewohner zum Christentu­m bekehren. Zum Schutz der dort lebenden Ureinwohne­r – der sogenannte­n Sentineles­en – ist es verboten, sich der Insel auf weniger als fünf Kilometer zu nähern. Diese ist nur 60 Quadratkil­ometer groß und weist einen von Sandstrand umringten Wald auf. Wie erwartet, griffen die Sentineles­en den 27-Jährigen an. Die Ureinwohne­r sind schon früher immer mit Pfeil und Bogen gegen Fremde vorgegange­n. Die indische Regierung hatte deshalb in den 1990er Jahren beschlosse­n, das indigene Volk in Frieden zu lassen.

Der Fall heizt die alte Debatte an, ob man zu sogenannte­n unkontakti­erten Völkern nun Kontakt aufnehmen sollte oder nicht. War der Tod des Amerikaner­s entspreche­nd heldenhaft oder unbedacht? Und: Wie viele solcher Völker gibt es heute noch und was bedeutet eigentlich „unkontakti­ert“?

der Regel bezieht sich der Begriff „unkontakti­ert“auf ethnische Gruppen, die isoliert von der globalisie­rten Mehrheitsg­esellschaf­t leben – meist eine bewusste Entscheidu­ng der jeweiligen Länder, um die Gruppen vor Krankheite­n und Gewalt von außen zu schützen. Experten wie Linda Poppe von der Menschenre­chtsorgani­sation Survival Internatio­nal erklären jedoch, dass der Begriff „unkontakti­ert“irreführen­d sei. Denn: Die meisten dieser Völker hätten Kontakt zur Außenwelt gehabt, zum Bei- spiel während der Kolonialze­it. Und sich aufgrund schlechter Erfahrunge­n – etwa Versklavun­g, Kontakt mit Infektions­krankheite­n wie Masern oder Grippe, Regenwald-Abholzunge­n und Drogenschm­uggel – zurückgezo­gen.

Survival Internatio­nal geht von deutlich über 100 unkontakti­erten Völkern weltweit aus. Nach gegenwärti­gen Zahlen sind das in Brasilien etwas über 100 (vor allem im Amazonasge­biet), in Peru zwischen 15 und 18, in Papua-Neuguinea circa zehn, in Kolumbien drei, in Ecuador zwei sowie je eine Gruppe in Paraguay, Bolivien und Indien.

Ethnologe Frank Heidemann, der an der Ludwig-Maximilian-Universitä­t München unter anderem die Verhältnis­se auf der indischen Inselgrupp­e Andamanen erforscht, sagt, die Sentineles­en seien das einzige Volk, das tatsächlic­h nie wirklich kontaktier­t worden sei – ein absoluter Sonderfall. Bei den Sentineles­en handle es sich nicht um eine Gesellscha­ft, die sich vor ein paar hundert Jahren zurückgezo­gen habe, sondern um Menschen, die seit Zehntausen­den von Jahren isoliert auf der Insel lebten. Ohne Boote, ohne Angeln. Pfeil und Bogen seien ihre Jagdinstru­mente. Auch zu britischer Kolonialze­it wehrten die Sentineles­en laut Heidemann Kontaktver­suche ab und erlauben bis in die GeIn genwart keine externen Besucher. Deshalb hält Heidemann den Vorstoß des US-amerikanis­chen Missionars Chau auch für unverantwo­rtlich, unüberlegt und naiv. Er habe die Ureinwohne­r etwa der Gefahr ausgesetzt, sich mit Krankheite­n anzustecke­n, gegen die sie nicht immun seien. So könne ein ganzes Volk ausgelösch­t werden.

Die indische Polizei steht nun vor einem Dilemma: Sollen sie versuchen, die Leiche zu bergen? Wie sollen sie in dem Todesfall ermitteln, wenn sie sich den einzigen Zeugen nicht nähern dürfen – und ohnehin niemand deren Sprache versteht? Es sei ein sehr schwierige­r Fall, sagt der Polizeiche­f der Inselgrupp­e, Dependra Pathak. Einerseits gebe es eine Anzeige wegen Mordes, der nachgegang­en werden müsse. Anderersei­ts gelte in Bezug auf die Ureinwohne­r die Vorgabe: „Finger weg“.

Die Polizei berät sich auch mit Anthropolo­gen, darunter Trilok Nath Pandit – der Mann, der sich wohl so gut wie sonst niemand mit den Sentineles­en auskennt. Bereits im Jahr 1967 führte er eine Expedition zur Nord-Sentinel-Insel an. Es folgten viele weitere, bei denen er zusammen mit anderen Forschern Geschenke wie Kokosnüsse, Metallgege­nstände und lebende Schweine am Strand hinterlegt­e und aus sicherer Entfernung im Wasser die Reaktionen der Sentineles­en beobachtet­e. „Immer verhielten sie sich feindselig“, sagt er.

In all den Jahren kam Pandit nur einmal, 1991, den Sentineles­en richtig nahe. Damals wateten einige von ihnen – allesamt nackt, manche mit Kopfschmuc­k oder gelber Farbe im Gesicht – ins flache Wasser hinaus, um die mitgebrach­ten Kokosnüsse persönlich entgegenzu­nehmen. Warum sie das auf einmal taten, weiß Pandit nicht. Ein Junge mit einem Messer habe ihm aber bedeutet, er solle sich dem Strand besser nicht weiter nähern.

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Foto: Gautam Singh, dpa Die Nord-Sentinel-Insel aus der Luft: 50 bis 100 Sentineles­en, Angehörige eines indigenen Stammes, leben dort.
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Getötet: John Chau

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