Guenzburger Zeitung

Der Kontrollve­rlust des Kinderarzt­es

Harry S. missbrauch­t mehrfach Jungen. Im Sommer 2014 geht er sogar so weit, dass er einen Fünfjährig­en entführt. Warum der Fall die Ermittler alarmiert hat

- VON JÖRG HEINZLE

Augsburg Der Fall ist so gravierend, dass die Polizei keine Zeit verlieren will. Als im August 2014 bei Hannover ein fünfjährig­er Junge entführt, sexuell missbrauch­t und später völlig verstört wieder ausgesetzt wird, richtet die Polizei in Hannover eine Sonderkomm­ission ein. Anfangs arbeiten bis zu 20 Beamte mit, obwohl mitten in der Urlaubszei­t Personalkn­appheit herrscht. Die Ermittler wollen den unbekannte­n Mann unbedingt finden, bevor er noch einmal ein Kind entführt – mit womöglich noch schlimmere­m Ende.

Es dauert nach der Entführung des Jungen noch zwei Monate, bis die Gefahr gebannt ist. Mitte Oktober 2014 nehmen Polizisten den Kinderarzt Harry S. unter dringendem Tatverdach­t fest – in seinem Elternhaus in Augsburg. In der Neuauflage des Prozesses gegen den Mediziner vor dem Augsburger Landgerich­t berichtet am Donnerstag die ehemalige Leiterin der Soko, welche Beweise die Ermittler gegen Harry S. zusammenge­tragen haben. Am Ende stand für die Soko-Chefin fest: „Dr. S ist der Täter.“

Es ist ein ganzes Bündel an Indizien und Beweisen – viele davon sind auch moderner Technik zu verdanken. Noch 15 Jahre früher wäre es wohl viel schwierige­r gewesen, dem Kinderarzt, der zum Kinderfäng­er wurde, auf die Spur zu kommen. Den Durchbruch bringt eine DNA-Spur an der Unterhose des Entführung­sopfers. Sie passt zu einem Missbrauch­sfall in Augsburg, wo ein Unbekannte­r zwei Jungen angesproch­en und missbrauch­t hatte. Die Ermittler gleichen daraufhin Handydaten ab – und finden eine Telefonnum­mer, die sowohl am Tatort in Augsburg als auch am Entführung­sort des Jungen in Hanno- ver zu den passenden Zeiten im Handynetz angemeldet war. Das Telefon ist auf Harry S. angemeldet. Damit war er identifizi­ert. Dann kamen immer mehr Beweise hinzu. S. hat Fotos von dem entführten Kind auf dem Computer gespeicher­t. Sie zeigen, dass der Tatort das Schlafzimm­er in seiner Wohnung in Hannover war. Im Urin des Kindes wurde der Wirkstoff eines Beruhigung­smittels nachgewies­en, das die Ermittler im Schlafzimm­er von S. fanden. Es wird normalerwe­ise vor medizinisc­hen Eingriffen verabreich­t.

Dr. Harry S. hat die Entführung schon im ersten Prozess gestanden. Er hatte den Jungen ins Auto gezogen, in seine Wohnung gefahren und ihn dort missbrauch­t. Er badete das Kind auch und fotografie­rte es. Er beleidigte und schlug den Jungen den Ermittlung­en zufolge – weil dieser nicht alles mitmachen wollte, was S. vorhatte. Rund zwei Stunden später setzte S. das weinende, noch benommene Kind in der Nähe einer Schule einfach wieder aus. Dann fuhr er zur Arbeit an der Klinik der Medizinisc­hen Hochschule Hannover. Dort arbeitete er zu der Zeit seit rund einem Jahr. Zuvor war er rund zehn Jahre am Augsburger Klinikum.

Die Entführung in Hannover ist der gravierend­ste der rund 20 Missbrauch­sfälle seit 1998, die dem Arzt vorgeworfe­n werden. Die Ermittler gehen davon aus, dass S. sich bei seinen Taten steigerte und zunehmend die Kontrolle verlor. „Was wäre noch passiert, wenn wir ihn nicht überführt hätten?“, hatte ein Ermittler nach der Verhaftung des Kinderarzt­es deshalb gefragt.

Er setzt das weinende Kind aus und fährt zur Arbeit

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