Alte Heimat verloren, neues Zuhause gefunden
Erinnerung Die Ausstellung im Heimat- und Bauernkriegsmuseum Blaue Ente in Leipheim liefert Einblicke in die Lebensgeschichte von Menschen, die nach 1945 in die Güssenstadt kamen: wie die von Inge Breid
Leipheim Der Schmerz ist noch nicht vergessen, auch, wenn knapp 70 Jahre vergangenen sind. Inge Breid blickt auf eine alte Puppe, die in einem hölzernen Bollerwagen sitzt. Die heute 80-Jährige schließt für einen kurzen Moment die Augen, schluckt und dreht sich weg. „Ich war sieben Jahre alt, als ich aus meiner Heimat im Erzgebirge vertrieben worden bin“, erzählt sie. Wie Millionen anderer Menschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Heimat verlassen mussten, musste auch sie ein neues Zuhause finden.
Viele Erinnerungsstücke von damals hat Inge Breid in den letzten Jahrzehnten aufbewahrt: Ihr kleiner Kinderkoffer, in dem sie ihre Spielsachen verstaut hatte, ein rosafarbenes Strickkleid, die alte Holztruhe und den Rucksack, in denen sie und ihre Mutter ihre Habseligkeiten verstaut hatten. Sie stehen nun als Leihgabe in der Blauen Ente. „Heimat? Neubeginn in Leipheim nach 1945“lautet der Titel der neuen Sonderausstellung im Heimat- und Bauernkriegsmuseum, die am Sonn- tag, 2. Dezember, eröffnet wird. Sie liefert Einblicke in die Lebensgeschichte von Menschen, die nach 1945 in die Güssenstadt kamen: von befreiten Zwangsarbeitern, von ehemaligen KZ-Häftlingen oder von Vertriebenen wie Inge Breid aus dem Sudetenland.
Einen besonders liebevollen Blick wirft die Leipheimerin der alten, aber noch gut erhaltenen Puppe zu. Als kleines Mädchen habe sie die Puppe von ihrer Taufpatin geschenkt bekommen. Sie sollte unbedingt mit in die neue unbekannte Heimat. Die Puppe war ein kleines Stück Sicherheit in dieser ungewissen Zeit. Inge Breid lebte in Hengstererben im Erzgebirge. „Wir hatten einen Tag Zeit, um unsere Sachen zu packen“, erzählt die 80-Jährige. „Es hat geregnet“, erinnert sie sich an diesen Tag im Juni 1946, der ihr Leben verändert hat. In einen offenen Lastwagen mussten die Dorfbewohner einsteigen. „Da hat mir ein Soldat die Puppe weggenommen.“Er hat sie ihr einfach aus den Händen gerissen und natürlich hat die damals Siebenjährige fürchterlich geweint. Ein anderer Soldat hatte Mitleid mit dem kleinen Mädchen und gab ihr das geliebte Spielzeug zurück. Noch heute erinnert die Puppe Inge Breid an ihre Kindheit im Erzgebirge. An ihre Vertreibung, an die ersten Nächte in einem Lager in Neudeck, in das die Vertriebenen gebracht worden sind. An die „primitive Baracke“und die Wanzen, die dort nachts die Schlafenden piesackten, und an die ZugFahrt in den Viehwaggons. Als die Waggons die Grenze nach Bayern erreicht hatten, wurden unzählige weiße Armbinden nach draußen geworfen. „Die mussten die Deutschen nach dem Krieg tragen“, erklärt Inge Breid. An der Grenze durften sie diese endlich abnehmen und so lag ein „ganzer Haufen weißer Armbinden“an den Gleisen.
Zunächst kam die Familie von Inge Breid – nach einer Zwischenstation im Allgäu – in einem Bauernhof in Franken unter. Dort sollte sie auch zum ersten Mal ihren Vater sehen. Der war jahrelang als Kriegsgefangener in Sibirien. Inge Breid und ihre Mutter dachten lange Zeit, dass der Familienvater im Krieg gefallen war. Doch das stimmte nicht, wie sich erst Jahre später herausstellte. Über das Rote Kreuz fand die Familie heraus, dass der Vater von Inge Breid noch lebte. Irgendwann kam eine Postkarte aus dem Gefangenenlager an. „Mir geht es gut“, stand darauf. „Eines Tages haben wir erfahren, dass ein Mann im Dorf ist und nach uns gefragt hat.“Mutter und Tochter liefen sofort los, um nach ihm zu suchen. „Und da stand auf einmal diese seltsame Gestalt“, erzählt Inge Breid mit einem breiten Lächeln. Erschrocken sei sie damals gewesen über den Anblick des Mannes, der ihr Vater war. „Diese Gestalt“trug Stiefel, einen langen Mantel und eine Mütze. „Und das im Juni.“Inge Breid lacht kurz auf, schüttelt den Kopf und sagt dann: „Ich war zehn Jahre alt, als ich meinen Papa zum ersten Mal gesehen habe.“
Auf dem Bauernhof in Franken wurde es bald zu eng. Sieben Menschen lebten dort in zwei Zimmern. Außerdem brauchten ihre Eltern Arbeit. So kam die Familie von Franken nach Schwaben. Inge Breids Vater war ein gelernter Handschuhmacher. Anstellung fand er bei der Handschuhmacherei Linder, die in Leipheim eine neue Fabrik bauten – auch die Familie Lindner war aus dem Sudetenland vertrieben worden. So zog Inge Breid mit ihren Eltern letztendlich nach Leipheim. Immer mit im Gepäck waren die Erinnerungsstücke an ihre alte Heimat: eine Decke, Bilder und natürlich ihre geliebte Puppe. In Leipheim hat Inge Breid ein neues Zuhause gefunden. Doch Heimat, das ist für sie immer noch das Dorf Hengstererben im Erzgebirge. „Heimat ist das, was einen in der Kindheit geprägt hat“, sagt sie.
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Ausstellung Die neue Sonderausstellung „Heimat? Neubeginn in Leipheim nach 1945“wird am Sonntag, 2. Dezember, um 14 Uhr eröffnet. Die Ausstellung ist bis 24. Februar 2019 immer sonntags von 14 bis 17 Uhr zu sehen. Führungen, auch außerhalb der Öffnungszeiten, können bei Jörg Grafe, Telefon 08221/72199 vereinbart werden.
Als Zehnjährige sah sie ihren Vater zum ersten Mal