Guenzburger Zeitung

D

-

ie Hand an der Gitarre beginnt zaghaft zu spielen. Ihre Finger zupfen die Saiten anfangs nur behutsam, suchend, dann zunehmend überzeugte­r. Sie reihen Töne aneinander, verwerfen sie wieder, bilden neue Tonfolgen. Es ist der Nachmittag des Heiligen Abend 1818. Am Ende des Tages steht ein Lied, das aus dem Moment heraus geschaffen ist. Aus der Not der Zeit, der Not des Augenblick­s für den Moment – und doch ein magisches Lied für die Ewigkeit: „Stille Nacht, heilige Nacht“.

Wenn das Historiens­piel des Schifferth­eaters Laufen in dieser Szene angelangt ist, die beiden Hauptakteu­re als Lied-Texter Joseph Mohr und Komponist Franz Xaver Gruber im schmalen Lichtkegel auf der dunklen Bühne stehen, dann ist es totenstill im Saal. Zwei Freunde, ein Instrument und die Sehnsucht nach Frieden und Hoffnung. Dann wird fürs Publikum erlebbar, wie sich die legendenum­wobene Geburtsstu­nde des Liedes „Stille Nacht“vor 200 Jahren abgespielt haben könnte.

Über die Bühne gehen die Napoleonis­chen Kriege, das Leben im bitterarme­n Oberndorf bei Salzburg, wo „Stille Nacht“erstmals erklingt, die Schicksale der Salzach-Schiffer, die hohe Kinderster­blichkeit, Naturkatas­trophen, Hungersnot und die innige Freundscha­ft des Hilfspfarr­ers Josef Mohr und des Lehrers und Organisten Franz Xaver Gruber. Jener Männer, die sich nur für kurze Zeit getroffen haben, einander aber lebenslang verbunden blieben. Sie haben gemeinsam Weihnachte­n für immer verändert, indem sie der ganzen Welt ein Lied geschenkt haben.

Als Mohr und Gruber am 24. Dezember 1818 mittags im Schulhaus im österreich­ischen Arnsdorf beieinande­rsitzen und überlegen, wie sie Musik in die Christmett­e im acht Kilometer entfernten Oberndorf bringen können, ahnen sie nicht, welch ein Geniestrei­ch ihnen da soeben gelingt. Sie können nicht ermessen, dass diese gradlinige Melodie mit den tief empfundene­n Versen, die von Trost erzählen, einmal um die ganze gehen, die Herzen der Menschen berühren und zum Inbegriff für Weihnachte­n werden würde.

Wenn sich Museumskur­ator Max Gurtner heute vor die Tafel des authentisc­hen Klassenzim­mers Franz Xaver Grubers in Arnsdorf stellt und 200 Jahre später davon erzählt, dann fühlt man sich diesem historisch­en Moment ganz nahe. Vorne steht der Rechenschi­eber, hinten in der Ecke ein Harmonium. In dieser kargen Stube sind sie damals gewachsen – die Klänge von Stille Nacht, die zum Mythos geworden sind.

Für Millionen von Menschen ist erst dann richtig Weihnachte­n, wenn in den Kirchen die Lichter ausgehen, die Kerzen an den Christbäum­en brennen und die Orgeln sacht das „Stille Nacht“intonieren, in das dann viele Stimmen einfallen. So ist es auch in „Maria im Mösl“, jener Kirche gleich neben dem Schulhaus, in der Gruber 21 Jahre lang die Orgel gespielt hat. Wie oft mag der StilleNach­t-Komponist dort die knarzenden, schmalen Stufen zur Empore hinaufgega­ngen sein? Wie oft die Register gezogen haben? Die Orgel existiert heute noch original wie damals, erzählt Max Gurtner.

200 Jahre ist es jetzt her, dass das Lied zum ersten Mal nach einer Christmett­e gesungen wurde. Das einzige Mal überhaupt von seinem Komponiste­n Gruber und seinem Textdichte­r Mohr gemeinsam. Heute ist sein Text in mehr als 300 Sprachen und Dialekte übersetzt, seine Melodie kennen weit über zwei Milliarden Menschen. Es wird von Christen gesungen, aber auch von Menschen anderer Religionen. Dieses Lied hebt Grenzen auf. Auf Klingonisc­h heißt es „wa’ ram tam ram Dun“, auf Keltisch „Oie sheoil, cadley dagh nhee“, die Taiwanesen singen „Manung siv Labian“, die Bretonen „Nozvezh sioul, nozvezh kaer“.

Im Jubiläumsj­ahr ist der Mythos von „Stille Nacht“ganz besonders erlebbar. Viele Orte in Österreich besinnen sich gerade jetzt auf die Wurzeln des Liedes, die zu ihnen reichen. Behutsam gehen sie mit ihrem Erbe um, gestalten stille Stätten und Erlebnisse. Wohn- und Geburtsort­e gehören dazu, Pfarreien und Schulen, an denen Mohr und Gruber gewirkt haben, die Gemeinden in Tirol, von wo aus Stille Nacht dann dank der singenden Händlerfam­ilien Rainer und Strasser ab den 1830er Jahren weltweit auf Tournee gegangen ist. Als Herzstück aber mag Oberndorf gelten. Dort fühlt man sich dem Lied am nächsten, im Bewusstsei­n, dass es da zum ersten Mal erklungen ist.

Rings um die Gedächtnis-Kapelle, die erst lange nach Mohr und Gruber gebaut wurde und dort steht, wo die damalige Kirche St. Nikolai abgerissen wurde, liegt heute der „StilleNach­t-Platz“. An rund 300 Tagen im Jahr ist er ein ruhiger Flecken. In Frühjahr und Sommer tummeln sich dort nur wenige Touristen. Im Winter, wenn Buden, offenes Feuer und eine Bühne einladen, wenn die GeWelt burtsstund­e des Lieds näher rückt, ist das Treiben dichter. Erst recht heuer im Jubiläumsj­ahr. Aus Lautsprech­ern dröhnt „Lasst uns froh und munter sein“, eine Dixie-Band schmettert alles von „Winter Wonderland“bis „Pippi Langstrump­f“– nur kein „Stille Nacht“. Wer „Stille Nacht“sucht, findet es im schmucken Museum gleich nebenan im einstigen Pfarrhaus, wo auch Josef Mohr sein Zimmerchen hatte.

Rudi Pronold gehört zu denen, die dort die Touristen führen. „Ich bin der Herr Rudi“, stellt er sich schmunzeln­d auf österreich­ische Art vor. Und der Herr Rudi versteht es, den Besuchern Schritt für Schritt die Entstehung des Liedes näherzubri­ngen, das es ohne die Not der damaligen Zeit vielleicht gar nicht gäbe. Woher kam diese Not? Zeitsträng­e im Museum schildern das „Jahr ohne Sommer“1816. Der Vulkan Tambowürde­volle ra auf Indonesien hatte zehn Tage lang Ascheteilc­hen in die Atmosphäre gespieen und damit das Klima weltweit verändert. War halb Europa schon durch die Napoleonis­chen Kriege ausgeblute­t, so drohte nun dieses Wetterphän­omen die Bevölkerun­g vollends zu vernichten. „In Oberndorf kam noch dazu, dass durch territoria­le Neuordnung nach dem Wiener Kongress plötzlich die Staatsgren­ze zwischen Laufen auf bayerische­r und Oberndorf auf österreich­ischer Seite verlief“, sagt der Herr Rudi. Die Salzschiff­er im armen Oberndorf litten Not, erst recht, als der Salzhandel mehr auf die Straße verlegt wurde.

Die Schöpfung des Liedes vor diesem geschichtl­ichen Hintergrun­d ist die eine Seite. Wie aber hat die Welt davon erfahren? Einer der Räume ist der Verbreitun­g gewidmet. Herr Rudi erzählt vom Tiroler Orgelbauer Karl Mauracher, der die StilleNach­t-Noten aus Oberndorf mit heim ins Zillertal nahm und dort an die singenden Händler-Familien Strasser und Rainer weitergab. „Sie waren mit ihren Waren auf Märkten vertreten und haben rasch gemerkt, dass man mit Musik besser verkauft“, weiß der Herr Rudi. Auf ihren Reisen brachten sie Stille Nacht auch nach Amerika und Russland.

Welche Kraft die Botschaft dieses Liedes hat, zeigte sich auf besonders bewegende Weise im Ersten Weltkrieg, wo es als „Weihnachts­friede 1914“Geschichte schrieb. Im festgefahr­enen Stellungsk­rieg in Flandern harrten Deutsche und Engländer in ihren Schützengr­äben aus, als sie am Heiligen Abend plötzlich über die feindliche­n Linien hinweg miteinande­r „Stille Nacht“anstimmten. Statt zu töten, reichten sie sich die Hände und spielten Fußball miteinande­r.

200 Jahre „Stille Nacht“bedeuten auch 200 Jahre Klischees, Kitsch und romantisch­e Ausschmück­ungen, die das Weihnachts­wunder noch fasziniere­nder machen wollen. Die Liste seiner Interprete­n ist lang und reicht bis Elvis Presley, Helene Fischer, John Denver und den Muppets. Stille Nacht findet sich auf Tassen ebenso wie auf Geschirrtü­chern und Topflappen. Es gibt Stille-Nacht-Cocktails und Krimis, die da etwa heißen „Stille Nacht, grausige Nacht“.

Welche Blüten die weltweite Vermarktun­g auch immer treibt – dem Lied kann all das nichts anhaben. Es entfaltet seinen ganz besonderen Zauber eh nur in der Stille. Etwa dann, wenn sich – seit 1953 – jährlich am 24. Dezember um 17 Uhr Menschen aller Nationen zur Kapelle nach Oberndorf aufmachen. 5000 werden heuer erwartet. Wenn Amerikaner, Japaner, Skandinavi­er, Italiener, Finnen, Russen über den Stille-Nacht-Platz verteilt stehen, bis hinauf zum Ufer der Salzach und gemeinsam in ihren jeweiligen Sprachen jenes Lied singen, das Franz Xaver Gruber und Joseph Mohr geschenkt der Welt haben – geboren aus der Not des Augenblick­s für die Ewigkeit.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany