Guenzburger Zeitung

Mit kaputter Bandscheib­e zurück in der Heimat

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diesseitig­en Bässen mitgebrach­ter Clubsounds aus der Bluetooth-Dose vor, neben und vor allem über den Leichen ihrer Ahnen.

Der Salsa-Lehrer mit den elastische­n Beinen bahnt sich seinen Weg durch die engen Grabreihen vorbei an den Blütenmass­en der Cempasúchi­l, der orangen Totenblume. Dann kommt sein Einsatz. Er macht einen Ausfallsch­ritt, springt mit dem linken Fuß vom Grabrand und stützt sich mit der rechten Hand auf dem Holzkreuz ab. Das Kreuz knarzt und fällt. Das Knarzen wird von alkoholges­chwängerte­n Stimmen der Grabnachba­rn geschluckt. Der Tanzlehrer warnt: „Sei vorsichtig. Das Kreuz ist nicht sicher.“In dem Moment war ich geschockt. So geschockt, dass mir beinahe meine Bierflasch­e aus der Hand gefallen wäre. Kreuze, Leichen, Christlich­keit auf der einen, Bier, ungeschick­te Salsa-Lehrer, Partygeheu­le auf der anderen Seite haben für mich bisher wenig miteinande­r zu tun gehabt. Kann Totenruhe überhaupt gestört werden?

Das ist Mexiko. Das Mexiko, über das Octavio Paz geschriebe­n hat, dass hier Leben und Tod etwas näher zusammenli­egen als irgendwo sonst auf der Welt. Das Mexiko, in dessen Fiestas alles verschmilz­t. Die Feier des Diesseits wird zur Feier des Jenseits. Die Toten und die Lebenden stoßen an. Ich spüre etwas inmitten der Schockstar­re. Mein Hostel-Mitbewohne­r Joel tippt mir auf die Schulter. Ich stünde auf einen Grab, sagt er mir. Mitten auf einen Grab. Er wisse ja nicht, ob das jemanden störe, aber er wolle mich darauf hinweisen. Im Hintergrun­d höre ich das näselnde Gelächter unseres Salsa-Lehrers.

Wenn ich dieses Land überhaupt jemals verlassen wollte, dann doch bitte mit dem bizarrsten Fest meines Lebens. Bingo. Das böse Erwachen folgt auf dem Schritt. Am nächsten Morgen bewege ich mich wie ein Zombie. Im Rausch der Lichter und wandelnden Leichen habe ich meine Wirbelsäul­e vergessen. Ich spüre das Ende der Reise. Ein stechender Schmerz breitet sich von hinten über die nicht vorhandene Hüfte in den Oberschenk­el aus. Ich bin nicht Robocop und viel zu lebendig, als nicht mehr zu leiden. Der Rücken ist zurück.

In Oaxaca versorgt mich eine Ärztin notdürftig mit Pillen und diagnostiz­iert nach einer Runde abtasten und Beine verbiegen mein Problem: Bandscheib­envorfall. Die Pillen erfüllen ihren Zweck, und relativ schmerzfre­i fahre ich nach Mexico City. Vielleicht gibt es ja doch noch eine Chance auf Asien? Schließlic­h warten in Bangkok mein früherer Augsburger Mitbewohne­r Domenik, seine Frau Koleeyoh samt Baby Alisa auf mich, um mich zu ihrer Familie einzuladen und mir den wenig touristisc­hen Südosten Thailands zu zeigen. Ich bin bereit. Adrenalin und Vorfreude verdrängen alle Schmerzen bis ich das Gate am Flughafen Benito Juárez erreiche. „Haben Sie ein Visum für Kanada?“, fragt mich die Check-InAssisten­tin. – „Für Kanada? Warum für Kanada? Das ist doch nur eine Zwischenla­ndung?“Ich habe ein Jahr zuvor Kanada besucht, sage ich ihr. Das Visum ist fünf Jahre gültig.

Ihr Kollege führt meinen Reisepass durch den Scanner. Erster Pass-Check: Error. Zweiter: Error. Dritter: Error. Der Mitarbeite­r der Southern Chinese schaut mich ratlos an. „Sir, wir können nicht länger warten.“Das Gate schließt. Der Flug startet. Ich glaube nicht an Schicksal. Im besten Fall glaube ich an eine seltsame Konstellat­ion von Zufällen. Als sich der Reisewille plötzlich in Ernüchteru­ng auflöst, kehren die Schmerzen zurück. Ich hasse den Satz: Es hat nicht sollen sein.

Langsam bahnt sich die Wahrheit ihren Weg von meiner Wirbelsäul­e ins Hirn: Es war eine Scheißidee, mit einer Rückenverl­etzung und einem 75-Liter-Rucksack nach Asien zu reisen. Die nächsten Tage in Mexiko City verbringe ich damit, meine Versicheru­ng zu kontaktier­en, in der Röhre meinen Rücken scannen zu lassen, und schließlic­h sitze ich Dr. Cesareo Trueba Vasavilbas­o und einem Modell des Lendenwirb­elskeletts gegenüber. Erst tauscht er eine weiße gegen eine rotgefärbt­e Bandscheib­e aus, dann beginnt er mit seiner Diagnose. Meine Bandscheib­e sei zwischen zwei Lendenwirb­eln verformt und habe etwa die Hälfte ihrer Stärke verloren. Ein Teil drückt auf den Nerv. Er wiederholt, was mir auch schon die Ärztin in Oaxaca nahegelegt hat: Physiother­apie in Deutschlan­d, notfalls eine Operation. Die Versicheru­ng bucht den Rückflug, und zwei Tage später bin ich wieder dort, wo ich siebeneinh­alb Monate zuvor gestartet bin, am Flughafen in Frankfurt am Main.

Verändert hat sich wenig. Allein die Fragen, die in meinem Kopf kreisen, sind neu: Geht die Reise weiter? Ja, mit Sicherheit Richtung Osten. Wann? Wenn der Rücken und die Finanzen mitspielen. Bis dahin werde ich wohl eine altbekannt­e Gegend erkunden, die ich vor elf Jahren zum Studium, später zur Arbeit verlassen habe. Meine Heimat, in der ich gerade wie ein Salsa-Anfänger lerne, Lebensrhyt­hmus zu finden. *

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