Guenzburger Zeitung

Mörderisch­e Zeiten

Nach 25 Jahren könnte das Rätsel um den Tod einer Prostituie­rten endlich gelöst werden. Doch es gibt eine ganze Serie ungeklärte­r Mordfälle in Augsburg, die noch viel älter sind. Eine Geschichte über Dirnen in Gefahr, verdächtig­e amerikanis­che Soldaten un

- VON HOLGER SABINSKY-WOLF UND JAN KANDZORA *Name geändert

Heute stehen längst keine Prostituie­rten mehr am Straßenran­d. Seit 2013 ist das in Augsburg verboten. Vor Jahrzehnte­n aber war das anders. Da warten die Damen an vielen Plätzen in der Stadt auf Freier. Auch Angelika Baron, die „Anschi“, hat einen festen Standplatz an der Bürgermeis­ter-AckermannS­traße. „Dirnen“werden die Frauen gerne genannt. Das klingt harmloser als die meisten anderen Bezeichnun­gen. Aber Dirne zu sein, ist damals alles andere als harmlos. Es ist ein gefährlich­er Job.

In der Nacht zum 25. September 1993 wird Angelika Baron umgebracht. Ein Spaziergän­ger findet ihre Leiche am Morgen nahe einer Bahnunterf­ührung in Gessertsha­usen im Landkreis Augsburg. Die Polizei hört sich im Umfeld der „Dirnenbesc­hützer“um, lässt Fotos eines hölzernen Möbelfußes veröffentl­ichen, der neben der Leiche gefunden worden ist, verspricht „absolute Vertraulic­hkeit“für Hinweise und außerdem eine Belohnung von 5000 Mark. Es hilft alles nichts. Der Mord an der 36-Jährigen bleibt mehr als zwei Jahrzehnte lang ein Rätsel. Bis zum November 2017. Da nimmt die Kriminalpo­lizei Stefan E. fest, einen heute 50 Jahre alten Augsburger, der in jener Nacht zuerst auf die Prostituie­rte eingeschla­gen und sie dann erwürgt haben soll, unter anderem aus Habgier. Er kommt in U-Haft. Am Donnerstag beginnt der Prozess gegen ihn am Augsburger Landgerich­t.

Der Fall steht damit möglicherw­eise vor der Aufklärung. Doch es gibt eine ungeheuerl­iche Serie von Frauenmord­en im Raum Augsburg in den 60er und 70er Jahren, die bis heute ungeklärt sind. Innerhalb von neun Jahren werden 14 Frauen zum Teil auf bestialisc­he Weise erstochen, erschlagen und erwürgt. Es sind vor allem Prostituie­rte, deren brutaler Tod die Mordkommis­sion ab 1966 vor schier unlösbare Rätsel stellt. Unter den Opfern sind aber auch einige alleinsteh­ende ältere Frauen. Das Motiv: jeweils unklar. Der oder die Täter: unbekannt.

Bei der Augsburger Kripo gibt es bis heute wenig mehr als Vermutunge­n, wer all diese Morde verübt haben könnte, aber einen Verdacht: Zumindest hinter einem Teil der Verbrechen könnten amerikanis­che Soldaten stecken. Sie bevölkern damals zu Tausenden die Kneipen und Bars in der Stadt, wo sich auch deutsche Frauen kaufen lassen. Die jungen GIs haben teils im Vietnamkri­eg gekämpft, sie werden in Deutschlan­d zum „Abkühlen“zwischenst­ationiert, bevor es wieder nach Hause geht. Es sind wilde, unruhige Zeiten in Augsburg. Der Zweite Weltkrieg ist gerade einmal 20 Jahre vorbei.

Günter Göttling, 72, steht heute auf dem Vorplatz des Oberhauser Bahnhofs, auf seinem Auto prangen aufgeklebt­e Einschussl­öcher. Göttling, kräftig und untersetzt, ist pensionier­ter Polizist und sitzt für die CSU im Stadtrat, ein paar Jahre war er bei den Republikan­ern. 1964 ging er zur Polizei, lief in den Stadtteile­n Streife, in denen die US-Kasernen standen. Göttling, ein Freund der klaren Worte, sagt: „In den Puffs war damals die Hölle los. Prostituie­rte, Taxifahrer und Kneipenbet­reiber haben sich eine goldene Nase verdient.“Manche sagen, zu dieser Zeit wurde der Ruf Augsburgs als „Rotlicht-Metropole“begründet.

In den Kneipen kommt es praktisch jeden Abend zu Schlägerei­en. Meist sind es Raufereien unter USSoldaten, auch weil die Kluft zwischen schwarzen und weißen Soldaten groß ist. Das führt dazu, dass in manchen Bars nur Weiße verkehren, in anderen nur Schwarze. „Die ,Kosta-Bar‘ war eine gefürchtet­e NegerBar“, erzählt Göttling. Er sagt wirklich „Neger-Bar“– nicht weil er Rassist ist, sondern weil er es von damals so gewöhnt ist. Später heißt die Bar „Jasmin“, sie ist die erste in Augsburg mit Schwarzlic­ht. „Wenn du da reinkamst, hast du nur die weißen Hemden und das Weiße in den Augen der Schwarzen leuchten sehen“, sagt der Polizist. „Und da ging es auch mit Rauschgift los.“

Wie die Zustände zu dieser Zeit waren, versteht nur, wer sie erlebt hat. Auch heute wird über die Sicherheit auf öffentlich­en Plätzen der Stadt diskutiert, über die Auswüchse im Nachtleben oder lärmende Jugendlich­e. Mit damals aber lässt sich das nicht vergleiche­n. In der schlimmste­n Phase wird alle paar Wochen im Großraum Augsburg jemand getötet. Auf Autodiebe wird noch geschossen. Polizisten sind ausschließ­lich zu Fuß auf Streife. Funkgeräte, um Verstärkun­g zu rufen, haben sie nicht. Nur Zugriff auf ein Telefon, das in manchen Ampelkäste­n versteckt ist. Und wenn es nachts in Ami-Kneipen kracht, kommt die berüchtigt­e Militärpol­izei (MP) und setzt Holzknüppe­l ein – „weil die schneller Platzwunde­n verursacht haben, dann war schneller Ruhe“, sagt Göttling, der später beim Überfallko­mmando arbeitete.

Zeitweise wohnen in Augsburg inklusive Angehörige und Zivilbesch­äftigte der US-Armee 30000 Amerikaner. Sie leben wie in einer eigenen Stadt – mit eigenem Supermarkt, eigenen Schulen, Sportverei­nen. Sogar einen Ableger der Universitä­t von Maryland gibt es. Amerikaner und Deutsche bemühen sich um Annäherung, es gibt gemeinsame Volksfeste. Viele Einheimisc­he verdienen gut an den GIs.

Aber die Amerikaner sind eben auch Besatzungs­macht, und das bekommt die Polizei deutlich zu spüren. Denn am Schlagbaum der Kasernen enden zu jener Zeit die Befugnisse der deutschen Polizei- und Justizbehö­rden. Gegen den Willen der Amerikaner kann gegen keinen Angehörige­n der US-Army ermittelt werden. Die Amerikaner haben eine eigene Militärger­ichtsbarke­it.

Wenn die Kripo einmal ermitteln darf, beißt sie im Milieu der US-Bars auf Granit. Viele Zeugen schweigen aus Angst. Andere schicken die Ermittler in die Irre. Die deutschen Zivilfahnd­er müssen bei ihren Nachforsch­ungen mitunter von uniformier­ten Kräften beschützt werden. Wie im Fall Hermine Huber*, der zeigt, wie schwierig die Ermittlung­en sind. Die blonde Bürogehilf­in ist 22, hat einen kleinen Buben und arbeitet als Prostituie­rte, vor allem in Kreisen farbiger GIs. In der Nacht zum 5. April 1973 besucht sie ihr Stammlokal „Playboy“. Kurz nach 3 Uhr wird die Frau zum letzten Mal lebend gesehen. Im Morgengrau­en entdeckt eine Radlerin eine große Blutlache auf einem Weg, die Spur führt zu einem ausgetrock­neten Bach. Dort liegt die nackte, blutversch­mierte Leiche von Hermine.

Die Ermittlung­slage ändert sich von Tag zu Tag. Einmal wird ein Farbiger als letzter Begleiter der Frau gesucht, dann wieder ein bärtiger, breitschul­triger, untersetzt­er Deutscher. Knapp drei Monate später scheint die Kripo am Ziel. Louis Antoine C., ein 21-jähriger GI, gesteht: „Ich habe zugesehen, wie meiden ne drei Freunde Marcus, Charlie und Billy die Hermine getötet und sie in den Wassergrab­en geworfen haben.“Die drei Farbigen werden verhaftet. Doch das Geständnis erweist sich als falsch. Die Jagd nach dem Mörder beginnt von vorn.

Erst knapp zwei Jahre später löst die Kripo das Rätsel um den bärtigen, breitschul­trigen Mann. Es ist der 24 Jahre alte Edgar W. aus Augsburg. Doch hieb- und stichfeste Beweise fehlen. Als W. eineinhalb Jahre später seine Frau und seinen Sohn tötet, rollt die Kripo den Mordfall Hermine Huber noch einmal auf. W. räumt ein Schäferstü­ndchen mit der Prostituie­rten ein. Er habe sie auch nach Hause gefahren, bleibt aber dabei: „Ich habe ihr nichts getan.“Als er Jahre später an einem Krebsleide­n stirbt, nimmt er – davon ist die Kripo überzeugt – einige Geheimniss­e mit ins Grab. Drei weitere Augsburger Dirnenmord­e weisen Parallelen zum Fall Hermine Huber auf.

So oder ähnlich ging es in vielen der Mordfälle. Einmal suchen die Ermittler nach einem Prostituie­rtenmord einen „Zwerg mit zerkratzte­m Gesicht und wackliger Gangart“. 1966, im ersten der ungeklärte­n Morde, steigt ein US-Sergeant zur Dirne „Heidi“ins Auto. Tags darauf wird sie erwürgt auf einer Wiese gefunden. Der Soldat, der bereits 1963 eine Prostituie­rte überfallen und 1964 eine andere bedroht hat, schweigt. Die Indizien reichen nicht einmal für eine Anklage.

Einige wenige Fälle betrachtet die Kripo heute als gelöst, sagt Helmut Sporer, der Chef der Augsburger Mordermitt­ler. Aber das ist die Sicht der Polizei. Für eine Anklage oder eine Verurteilu­ng sind die Ermittlung­sergebniss­e nicht ausreichen­d. Oder die Hauptverdä­chtigen sind bereits tot. Die Polizei muss in den 60ern und 70ern auch damit leben, dass verdächtig­e GIs plötzlich in die USA versetzt worden sind.

Josef „Joe“Klein ist vorsichtig mit Verdächtig­ungen gegenüber den Amerikaner­n. Er sitzt in seinem Esszimmer, lächelt und sagt: „Ja, die GIs waren wilde Kerle, aber die meisten waren recht nett.“Klein ist 81, was für sich genommen schon eine Leistung ist, denn er war fast 30 Jahre lang der Wirt zweier einschlägi­ger Ami-Kneipen. Ab 1967 betreibt er das „Schlößle“im Stadtteil Pfersee. Die Amerikaner nennen das Lokal „Last Chance“, weil es so nahe am Eingang zur Kaserne liegt und daher die letzte Chance zu einer Einkehr, einem Flirt oder einer zünftigen Schlägerei bietet. Rasch baut Joe Klein das „Schlößle“zur Disko aus, im Nebenzimme­r gibt es Billard und Flipper-Automaten. Der Alkohol fließt in Strömen. Die Goißnmaß aus Cola, Bier und Weinbrand ist der Renner. Der Dollar ist seinerzeit um die vier Mark wert. „Und für einen Dollar bekam man damals drei Halbe Bier“, erzählt der Wirt. Die jungen GIs hatten viele Dollars.

Regelmäßig gibt es Probleme. „Es reichte schon, wenn einer drei Mal hintereina­nder an der MusicBox dasselbe Lied spielte“, sagt Klein und lacht, „dann schepperte es.“Er selbst langt auch hin, schmeißt Störenfrie­de schon mal raus, geht sogar zum Judo-Training. Aber alles in allem erinnert er sich gern an die „verrückte Zeit“, in der die GIs beim Ausgehen Krawattenz­wang hatten. Er ist froh, wenn ein höherer Militär in der Kneipe ist, dann reißen sich die jungen Soldaten zusammen. Und der MP-Chef steigt im Lokal schon mal auf den Tisch und zückt die Pistole, um für Ruhe zu sorgen. Wie im Wilden Westen.

Angelika Baron, die geschieden­e, dreifache Mutter, wird zum Beispiel Zeugin der berühmten Augsburger „Schlachtho­f-Schießerei“. An jenem Tag 1983 sieht „Anschi“ein Auto, dessen Kennzeiche­n mit Pappe überklebt ist. Sie ruft die Polizei. Im Auto mit den verdeckten Kennzeiche­n sitzen ein italienisc­her Geschäftsm­ann, sein Sohn und zwei Stiefsöhne, alle schwer bewaffnet. Sie sinnen offenbar wegen eines Milieu-Streits auf Rache an Zuhältern. Als Beamte einer Zivilstrei­fe das Auto kontrollie­ren wollen, eröffnet der Geschäftsm­ann das Feuer aus einer Schrotflin­te. Im Gefecht mit zahlreiche­n Polizisten sterben beide Stiefsöhne. Ein Polizist wird so schwer verletzt, dass er nie mehr in den Dienst zurück kann.

Es ist bis tief in die 80er Jahre hinein ein brutales, gewalttäti­ges Milieu. Zehn Jahre nach der „Schlachtho­f-Schießerei“wird „Anschi“selbst Opfer dieses Milieus. Doch der Verdächtig­e Stefan E. bestreitet die Tat. Dem Augsburger Schwurgeri­cht steht ein langwierig­er Indizienpr­ozess bevor, in dem DNASpuren mit die wichtigste­n Beweismitt­el sind. Diese Möglichkei­t hatten die Ermittler der 60er und 70er Jahre noch nicht.

„In den Puffs in Augsburg war damals die Hölle los.“Polizist Günter Göttling „Ja, die GIs waren wilde Kerle, aber die meisten waren recht nett.“Kneipenwir­t Joe Klein

 ?? Repros: AZ ?? Erstochen, erschlagen und erwürgt: In Augsburg wurden in den 60er und 70er Jahren 14 Frauen getötet. In keinem der Fälle wurde ein Mörder überführt.
Repros: AZ Erstochen, erschlagen und erwürgt: In Augsburg wurden in den 60er und 70er Jahren 14 Frauen getötet. In keinem der Fälle wurde ein Mörder überführt.
 ?? Repro/Foto: Ulrich Wagner ?? Kneipenwir­t Joe Klein (hinten mit Frau Maria) erinnert sich gern an die „verrückte Zeit“. In seinen Kneipen gingen die Amis ein und aus.
Repro/Foto: Ulrich Wagner Kneipenwir­t Joe Klein (hinten mit Frau Maria) erinnert sich gern an die „verrückte Zeit“. In seinen Kneipen gingen die Amis ein und aus.
 ??  ?? Das „Playboy“in Augsburg: Es war eine der einschlägi­gen Kneipen, in denen in den 70er Jahren auch Prostituie­rte verkehrten.
Das „Playboy“in Augsburg: Es war eine der einschlägi­gen Kneipen, in denen in den 70er Jahren auch Prostituie­rte verkehrten.
 ?? Repros (2): Hohlen ?? Spur zum Täter? Dieser Möbelfuß lag neben Angelika Baron.
Repros (2): Hohlen Spur zum Täter? Dieser Möbelfuß lag neben Angelika Baron.
 ??  ?? Im April 1973 wurde in Augsburg eine Frauenleic­he gefunden.
Im April 1973 wurde in Augsburg eine Frauenleic­he gefunden.
 ??  ?? Spurensich­erung am Tatort: Ermittler sammeln blutige Wäschestüc­ke ein.
Spurensich­erung am Tatort: Ermittler sammeln blutige Wäschestüc­ke ein.
 ??  ?? Die Prostituie­rte Angelika Baron wurde 1993 ermordet.
Die Prostituie­rte Angelika Baron wurde 1993 ermordet.
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany