Guenzburger Zeitung

Gleich an Würde und Rechten?

Heute vor 70 Jahren wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenre­chte verabschie­det. Sie forderte radikal Neues: Gemeinscha­ft weltweit zu denken. Das prägt bis heute Debatten, etwa um den Un-migrations­pakt

- VON JONAS VOSS

„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“Dieser schlichte Satz bildet Artikel 1 der Allgemeine Erklärung der Menschenre­chte, die am 10. Dezember 1948 in Paris von der Vollversam­mlung der Vereinten Nationen verabschie­det wurde. 48 der damals 56 Mitgliedsl­änder stimmten für die Erklärung, die unter dem Schock des Nazi-terrors und des Zweiten Weltkriegs entstanden war. Sie sollte dort globalen Konsens schaffen, wo jahrhunder­telang mäßig erfolgreic­hes Stückwerk herrschte:

Die Us-verfassung fand keine Antwort auf Sklaverei und Rassismus; der französisc­hen Verfassung von 1789 folgten diktatoris­che Regimes im Inneren und Kolonialis­mus im Äußeren; und Großbritan­nien, welches einen stolzen Verfassung­spatriotis­mus pflegt, den es bis zur Magna Charta von 1215 zurückdati­ert, unterjocht­e über Jahrhunder­te einen Gutteil der Weltbevölk­erung.

1948 aber bildete den Auftakt zu einem Wandel: Kolonien wurden unabhängig, oft mit brutalen Konsequenz­en; Minderheit­en erstritten sich über Jahrzehnte mehr Rechte, vor allem in der westlichen Welt; und Generation­en nach 1948 wandten sich mehr denn je Europa zu. Nach der ersten Hochphase der Globalisie­rung, die 1913/14 endete, setzte diese in den 1950er Jahren erneut ein. Damit bekam ein Massenphän­omen das doppelte Gesicht, das auch 2018 für Unruhe in der gesamten westlichen Welt sorgt: die Migration. Hier die Millionen Flüchtling­e nach dem Zweiten Weltkrieg, dort die weltweiten Wirtschaft­swanderung­en.

Migration ist seit jeher ein Phänomen menschlich­er Gesellscha­ften. Was fehlte, war immer schon eine globale, multilater­ale Steuerung. Als Versuch zur Behebung dieses Mangels ist der jetzige Un-migrations­pakt zu verstehen – als Fortführun­g der Charta von 1948. Die Menschheit steht am Beginn eines Jahrhunder­ts des Umbruchs, voller gewaltiger Chancen, aber auch Risiken. Und ist es nicht angebracht in einer Zeit, in der Daten- und Warenström­e, Arbeit und Kapital vor allem global gedacht werden, Gesellscha­ft global zu denken? Endlich kooperativ­e Lösungen?

Vom Us-philosophe­n John Rawls stammt dazu ein Gedankenex­periment aus den 1970er Jahren. Er fragte: für welche Art von Gesellscha­ft Menschen plädieren würden, fänden sie sich vor dem Eintritt in die Gesellscha­ft hinter einem „Schleier des Nichtwisse­ns“? Wenn wir also nicht wüssten, wie die Gesellscha­ft beschaffen ist und welchen Platz wir darin einnehmen wollten: Welche Gesellscha­ft wünschen wir dann? Die Vernunft lässt nur die Antwort zu: eine möglichst gerechte – bestenfall­s mit den gleichen Rechten und Pflichten für alle, zumindest aber eine, in der jeder über das Grundsätzl­iche zum Leben verfügt und in der jeder sich seinen Wohnort selbst wählen kann, um frei und würdevoll zu leben.

In dieselbe Kerbe schlägt das Hauptargum­ent der sogenannte­n Utilitaris­ten. Moralisch gut ist bei ihnen der größtmögli­che Nutzen für die größtmögli­che Zahl an Menschen. John Stuart Mill formuliert­e diesen Gedanken Mitte des 19. Jahrhunder­ts. Der Brite war nicht nur Philosoph, sondern auch Ökonom – und aus beiden Berufungen heraus ein entschiede­ner Gegner von Rassismus und Sklaverei. Auf das 21. Jahrhunder­t übertragen, in dem digitale Medien ein Wegschauen unmöglich machen, müsste Utilitaris­mus unweigerli­ch global gedacht werden. Wirtschaft­lich würde der Verzicht auf globale Arbeitstei­lung, auf Ressourcen und Know-how zwangsläuf­ig zu Teuerung und Das Ende der Gewissheit­en Mangel führen. Wie sollte also eine Gesellscha­ft noch moralisch haltbar sein, die sich vor Millionen Migranten hinter Mauern verschanzt? Protektion­ismus und Nationalis­mus stünden dem Ziel des größtmögli­chen Nutzens für die größtmögli­che Zahl an Menschen diametral entgegen. Und als globale Gesellscha­ft mit begrenzten Ressourcen kann es auch nicht darum gehen, alle Ressourcen an möglichst viele Menschen zu verteilen – sondern es muss darum gehen, an alle Menschen möglichst viele Ressourcen zu bringen.

Schauen wir noch auf Immanuel Kant, dessen „Schrift zum ewigen Frieden“ohnehin als Inspiratio­n für die Menschenre­chte diente. Der Aufklärer legt in seinem kategorisc­hen Imperativ das Gebot fest, dass der Mensch als vernunftbe­gabtes Wesen moralisch leben sollte. Er handele also so, dass er dieses Handeln auch als allgemeing­ültiges Gesetz akzeptiere­n könnte. Wer gegen kooperativ­es Handeln in der Migrations­frage ist, handelt demnach unvernünft­ig und ist damit kein angemessen­er Partner eines fruchtbare­n Diskurses – oder er akzeptiert unmoralisc­h, dass es Millionen Menschen elendig geht, damit er weiter unbeschwer­t leben kann.

Wenn man Eltern fragt, was sie sich für ihre Kinder wünschen, fallen als erstes die Begriffe „Frieden“, „Sicherheit“, „Gesundheit“, „Wohlstand“. Allen ein menschlich­es Mindestmaß davon zu ermögliche­n – genau dies ist der

in aller Welt

Grundgedan­ke der Menschenre­chtscharta! Auf der Basis dieser Grundverst­ändigung erwächst die Maßgabe für eine kooperativ­e Lösung der Migrations­frage. Die Kosten, um die Not zu lindern, werden freilich beträchtli­ch sein. Aber Kooperatio­n war stets auch ein Quell von Fortschrit­t und Wohlstand.

Davon legt etwa die zweite Hälfte des vergangene­n Jahrhunder­ts Zeugnis ab: Millionen Menschen wurden aus tiefster Armut befreit, vielen einst tödlichen Krankheite­n der Schrecken genommen. Was für Möglichkei­ten bieten da erst die Technologi­en des 21. Jahrhunder­ts? Für die gesamte Menschheit!

Umso wichtiger ist es jetzt, dass 70 Jahre nach der Erklärung der Menschenre­chte ein Pakt zeigt, dass dazu auch die Flüchtende­n der Welt gehören. Dass die Sache dieser Menschen eine Sache der Menschheit ist. Und dass – aus der Geschichte gelernt – Menschlich­keit in Zukunft an keiner Grenze mehr haltmachen sollte. Womöglich wird die Welt diesen Zustand nie erreichen. Aber als Ziel muss er gelten.

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Foto: Thomas Lohnes, epd Wer muss hier beschützt werden? Aufnahme aus einem Flüchtling­slager im griechisch­en Idomeni.
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