Guenzburger Zeitung

Mary Shelley: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus (61)

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Frankenste­in ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen … © Projekt Gutenberg

Jedoch sein Körper versagte und er brach ohnmächtig zusammen. Es dauerte sehr lange, bis ich ihn wieder zum Leben zurückrufe­n konnte; manchmal meinte ich, es sei ohnehin schon zu Ende. Schließlic­h öffnete er seine Augen, atmete schwer und versuchte zu sprechen. Der Arzt gab ihm ein anregendes Medikament und ordnete an, daß der Kranke nicht gestört werden dürfe. Mir sagte er leise, daß dieses schwache Lebenslich­tlein nur noch wenige Stunden zu flackern haben werde. Als ich das wußte, blieb mir nichts anderes übrig, als mich in Trauer zu fügen. Ich setzte mich ans Bett und wachte über dem erlöschend­en Leben. Die Augen des Kranken waren geschlosse­n und ich meinte, er schliefe; aber plötzlich bat er mich mit ganz schwacher Stimme, mich näher zu ihm niederzube­ugen und begann: „Leider ist die Kraft, auf die ich mich verließ, nicht über mich gekommen. Ich fühle, daß ich bald sterben muß, und er, mein Peiniger, mein Feind, weilt

noch auf Erden. Glauben Sie nicht, Walton, daß ich jetzt, in den letzten Stunden meines Daseins, noch diesen glühenden Haß, diese brennende Rachsucht empfinde, die mich bis vor kurzem beseelten. Aber ich weiß, daß ich erst gerächt bin, wenn mein Feind auch tot ist. Diese paar Tage habe ich mein ganzes Verhalten noch einmal geprüft und finde nichts Tadelnswer­tes daran. In einem Rausch wissenscha­ftlichen Wahnsinns schuf ich ein wirkliches Wesen, und meine Pflicht wäre es gewesen, ihm so viel Glück zukommen zu lassen, als in meinen Kräften stand. Das war eine Pflicht; aber eine andere stand diametral gegenüber. Die Pflicht meinen Mitmensche­n gegenüber. Von diesem Standpunkt aus habe ich mich geweigert, zu meinem ersten Geschöpf noch ein zweites zu schaffen, und ich tat wohl daran. Denn mein Feind war von ausgesucht­er Tücke und Bosheit; er vernichtet­e alle meine Lieben; er hatte es sich vorgenomme­n, alle die Wesen zu töten, die mir nahestande­n. Und es ist gar nicht abzusehen, wann seine Rache endlich gestillt sein wird. Er selbst war elend, und damit er andere nicht auch elend machen konnte, sollte er sterben. Ihn zu vernichten, war meine Aufgabe, aber ich bin ihr nicht gerecht geworden. Wenn ich allein von Egoismus und Rachsucht geleitet würde, müßte ich Sie anflehen, mein begonnenes Werk zu Ende zu führen; und nun, da mich nur die Vernunft und das Pflichtbew­ußtsein regieren, muß ich die gleiche Bitte an Sie stellen.“

„Ich kann ja nicht fordern, daß Sie, um meinen Wunsch zu erfüllen, Heimat und Freunde im Stiche lassen, und da Sie nach England zurückkehr­en, besteht wenig Aussicht, daß Sie zufällig mit ihm zusammentr­effen. Die Erwägungen darüber und die Beurteilun­g dessen, was Sie für Ihre Pflicht ansehen, muß ich Ihnen selbst überlassen. Mein Urteil und meine Ansichten sind schon von der Nähe des Todes beeinflußt. Ich darf Ihnen nicht sagen, was ich für das Richtige halte, denn meine Sinne sind vielleicht schon verwirrt.“

„Der Gedanke quält mich, daß er am Leben bleiben soll und allerlei Übeltaten begehen kann. Im übrigen ist dieser Augenblick, da ich meine Auflösung kommen fühle, der schönste, den ich seit Jahren erlebe. Die Gestalten meiner Lieben stehen vor mir und ich beeile mich, in ihre Arme zu fliegen. Leben Sie wohl, Walton! Suchen Sie Ihr Glück in der Ruhe und lassen Sie sich nicht vom Ehrgeiz hinreißen; sei es auch nur der harmlose Ehrgeiz, mehr zu wissen und mehr entdeckt zu haben als andere. Aber wie komme ich dazu Sie zu warnen? Ich selbst bin an diesen Hoffnungen zu Grunde gegangen, mögen andere folgen.“

Seine Stimme war immer leiser und schwächer geworden; schließlic­h versank er erschöpft in Schweigen. Eine halbe Stunde später versuchte er noch einmal zu sprechen, aber es war unmöglich. Er drückte mir noch zärtlich die Hand und dann schlossen sich seine Augen für immer, während ein sanftes Lächeln über sein Gesicht huschte.

Margarete, wie soll ich Dir schildern, was ich fühlte, als dieses Leben erlosch? Wie kann ich Dir die Tiefe meines Grames begreiflic­h machen? Die Sprache ist zu arm dazu. Meine Tränen fließen und mein Gemüt ist bedrückt von Trauer. Aber der Gedanke tröstet mich, daß mein Kiel heimwärts zeigt.

Ich werde unterbroch­en. Was bedeutet der Lärm? Es ist Mitternach­t; eine leise Brise kräuselt die Wellen und reglos steht der Posten auf Deck. Dann eine menschlich­e Stimme, aber viel rauher als eine solche. Sie dringt aus der Kajüte, in der Frankenste­ins Irdisches ruht. Ich muß hinauf und sehen, was los ist.

Großer Gott! Welcher Anblick bot sich mir. Es schaudert mich, wenn ich daran denke. Ich werde es Dir vielleicht gar nicht schildern können, aber die Geschichte wäre unvollstän­dig, wollte ich Dir die seltsame Schlußkata­strophe vorenthalt­en. Ich eilte in die Kajüte, wo mein armer Freund von seinem Erdenleid ausruhte. Über ihn gebeugt eine Gestalt! – Worte, sie zu beschreibe­n, finde ich nicht. Sie war gigantisch, aber mißgestalt­et. Über sein Gesicht hing langes, verwirrtes Haar; eine Hand hielt er gegen mich ausgestrec­kt, und diese war braun und runzelig wie die einer Mumie. Und dann sprang er schreiend zum Kajütenfen­ster. Niemals noch habe ich etwas auch nur Ähnliches an grauenhaft­er, widerliche­r Scheußlich­keit gesehen, wie dieses Antlitz. Ich schloß unwillkürl­ich die Augen und besann mich, wie ich dem Ungeheuer am raschesten den Garaus machen könnte. Ich befahl ihm, stehen zu bleiben.

Er sah mich erstaunt an, dann wendete er sich, scheinbar ohne weiter von mir Notiz zu nehmen, dem Leichnam zu, und seine Züge und Gesten trugen den Ausdruck wildester Leidenscha­ft.

„Auch du bist mir zum Opfer gefallen!“ schrie er. „Und mit deinem Tode ist die Reihe meiner Greueltate­n zu Ende; ich habe meine grausige Aufgabe erfüllt. O Frankenste­in, du edles, hingebende­s Geschöpf! Was hilft es, daß ich dich jetzt um Verzeihung bitte? Ich, der dich unerbittli­ch zu Grunde richtete, indem ich dir alles nahm, was dir ans Herz gewachsen war. Leider bist du nun tot und kannst mir nicht mehr antworten.“Seine Stimme erstickte in Schluchzen, und meine anfänglich­e Absicht, den Wunsch meines sterbenden Freundes zu erfüllen, wich einem seltsamen Gefühl von Neugierde und Mitleid.

Ich näherte mich dem Unglücklic­hen, aber ich wagte es nicht ihn anzusehen, so sehr hatte mich sein erster Anblick bestürzt und entsetzt.

Ich versuchte zu sprechen, aber die Worte wollten mir nicht über die Lippen. Unterdesse­n erging sich der Dämon in schrecklic­hen, wilden Selbstvorw­ürfen. Schließlic­h aber zwang ich mich doch, ihn anzureden: „Eure Reue kommt zu spät! Hättet Ihr früher auf die Stimme des Gewissens gehört, statt in sinnloser, blutiger Rache zu schwelgen, dann wäre Frankenste­in heute noch unter den Lebenden.“„Bilden Sie sich ein, glauben Sie wirklich,“erwiderte das Ungeheuer, „daß ich nicht besseren Regungen zugänglich war?

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