Guenzburger Zeitung

Wie sicher fühlen sich Frauen in der Region?

Drei Vergewalti­gungen innerhalb von drei Tagen, mitten im Unterallgä­u: Was solche Verbrechen mit dem Sicherheit­sgefühl der Menschen machen und welche Erklärung ein Polizeipsy­chologe dafür hat

- VON SABRINA SCHATZ, SARAH RITSCHEL, JÖRG HEINZLE, MICHAEL BÖHM UND ANDREAS FREI

Babenhause­n Die junge Frau ist 22. Sie wohnt im Unterallgä­u. Sanfte Hügel, Natur, Ruhe, hohe Lebensqual­ität. Ein solches Maß an Kriminalit­ät? Weit weg. Dachten alle.

Babenhause­n und Egg an der Günz, jene Orte, die nach den schrecklic­hen Ereignisse­n der vergangene­n Woche in den Schlagzeil­en stehen, sind vom Wohnort der jungen Frau nicht weit entfernt. Deshalb hat sie ja nun so ein mulmiges Gefühl. „Ich fand es immer schlimm, so was zu hören. Aber dass das jetzt bei uns passiert, macht mir extrem Angst.“

Deshalb will sie ihren Namen nicht in der Zeitung lesen. Deshalb räumt sie ein: „Im Moment fühle ich mich nicht mehr sicher, wenn ich allein im Dunkeln unterwegs bin.“Und deshalb teilt auch ihre Freundin, 25, diese Sorge: „Wenn man auf dem Land nicht mehr sicher ist, wo dann?“

Drei Vergewalti­gungen innerhalb von drei Tagen. Nicht in Berlin, nicht in einer anderen Großstadt – nein, im Unterallgä­u.

Montagaben­d vor einer Woche, Egg an der Günz, keine 1200 Einwohner. Der erste Übergriff. Eine Frau, die mit ihrem Hund spazieren geht, wird auf einem Feldweg zu Boden gedrängt und sexuell misshandel­t. Der Täter flüchtet.

Zwei Tage später folgen zwei Angriffe an einem Badesee in Babenhause­n. Eine Spaziergän­gerin, ebenfalls mit dem Hund unterwegs, wird von einem Fahrradfah­rer bedrängt. Als sie mit ihrem Auto wegfahren will, zerrt der Mann sie in den Wagen und vergeht sich dort an ihr. Sie kann sich befreien, fährt nach Hause und verständig­t die Polizei.

Beinahe zeitgleich erreicht ein weiterer Notruf die Einsatzzen­trale. Ein Mann berichtet, eine schwer verletzte Frau gefunden zu haben. Wie sich herausstel­lt, wurde sie in einer Umkleideka­bine am Ufer desselben Weihers Opfer eines sexuellen Übergriffs. Sie wehrte sich mit einer Schere, die sie zufällig dabeihatte. Der zunächst unbekannte Täter und sie selbst wurden verletzt. Als ein unbeteilig­ter Mann auf die Situation aufmerksam wurde, rannte der Täter davon.

Schon bald danach nimmt die Polizei einen Tatverdäch­tigen fest. Er sitzt seither in Untersuchu­ngshaft. Die Polizei sagt, es sei wahrschein­lich, dass er sich an allen drei Frauen vergangen hat. Der 25-jährige Flüchtling aus Eritrea habe eingeräumt, vor Ort gewesen zu sein. Zu den konkreten Vorwürfen jedoch schweigt er.

Die Ermittler sprechen bei den Taten von Vergewalti­gungen im juristisch­en Sinn. „Zur Erfüllung dieses Tatbestand­s muss nicht zwingend der Beischlaf vollzogen wer- den“, erklärt Christian Eckel, Pressespre­cher des Polizeiprä­sidiums Schwaben Süd/West.

Fakt ist: In den vergangene­n Monaten haben einige Sexualdeli­kte auf offener Straße viel Verunsiche­rung in der Bevölkerun­g ausgelöst. Die mutmaßlich­e Vergewalti­gung einer 18-Jährigen in Freiburg beispielsw­eise. Neun Tatverdäch­tige sitzen in Untersuchu­ngshaft, acht Syrer und ein Deutscher. Oder die Tat an einer 16-Jährigen in Neusäß bei Augsburg. Hier ist der unbekannte Vergewalti­ger noch auf der Flucht.

Fakt ist auch: 2017 gab es schwabenwe­it 21 „überfallar­tige Vergewalti­gungen“, wie es in der Polizeista­tistik heißt. Das ist ein Fall weniger als im Vorjahr. War damals noch ein „Zuwanderer“unter den Tatverdäch­tigen, wie die Polizei diese Gruppe in Abgrenzung zu anderen Ausländern und Deutschen bezeichnet, waren es ein Jahr später acht. Zahlen aus dem laufenden Jahr für den Regierungs­bezirk können die Ermittler noch nicht vorlegen.

Die Statistik ist das eine. Was solche Taten mit den Empfindung­en in der Bevölkerun­g machen, taucht darin nicht auf. Wie auch?

Im Unterallgä­u sind einige Frauen bereit, mit unserer Redaktion über ihr Sicherheit­sgefühl nach den Verbrechen zu reden – wenn auch anonym. In Babenhause­n sagt eine 25-Jährige: „Das mulmige Gefühl der Unsicherhe­it kenne ich eher aus der Stadt. Dass nun so ein furchtba- res Ereignis im eigenen Wohnort, dem scheinbar sicheren kleinen Örtchen, geschehen ist, nimmt mir das wertvolle Gefühl der Sicherheit.“Sie sagt aber auch, sie wolle sich nicht in ihrer Freiheit einschränk­en lassen. Und auch nicht Vorurteile aufbauen: „Gewiss werde ich nicht um jeden dunkelhäut­igen Mann oder südländisc­hen Typ, der mir begegnet, einen Bogen machen.“

Oder: eine 59-Jährige, die jeden Morgen mit dem Fahrrad nach Babenhause­n zur Arbeit fährt. Auch sie will sich ihre Gewohnheit­en nicht nehmen lassen, aber wachsam sein. „Ich habe mir schon überlegt: Wie würde ich reagieren?“Im Bekanntenk­reis hätten Frauen erzählt, dass sie künftig Fahrgemein­schaften bilden werden, statt abends allein draußen unterwegs zu sein. Für ihre erwachsene Tochter wünscht sie sich, dass diese an einem Selbstvert­eidigungsk­urs teilnimmt.

Und eine andere Frau glaubt: „Im Moment sind die Fälle so aktuell und in den Köpfen drin. Eine gewisse Zeit lang sind die Leute jetzt vielleicht vorsichtig­er. Aber das wird auch wieder abflachen.“

Marion Zech weiß, was die drei Opfer aus dem Unterallgä­u gerade durchmache­n. Nicht aus eigener Erfahrung, sondern weil sie hunderte solcher Frauen schon vor Gericht vertreten hat. Seit fast 26 Jahren ist die Augsburger­in Opferanwäl­tin. Vergewalti­gung, sexuelle Nötigung – nüchterner Alltag für die drahtige Frau. Zum Erfahrungs­schatz der 53-Jährigen gehört auch: Manche ihrer Mandantinn­en werden von den eigenen Schrecken eingeholt, wenn über eine neue Vergewalti­gung berichtet wird. „Gerade Frauen, bei denen die Tat länger zurücklieg­t, sagen mir dann: ,Wenn ich so etwas lese, ist alles wieder präsent.‘“In neueren Fällen seien die Opfer oft noch viel zu sehr mit sich selbst beschäftig­t, um die Schlagzeil­en richtig wahrzunehm­en. „Sie lesen oft überhaupt keine Nachrichte­n mehr oder können sich keine Krimis im Fernsehen ansehen.“

Die meisten Akten, die in Zechs Büro und zu Hause im Arbeitszim­mer liegen, handeln von Fällen, in denen sich Opfer und Täter kannten. Überfallar­tige Vergewalti­gungen durch fremde Personen wiederum sind relativ selten, das zeigt die Statistik. Vielleicht auch dank dieses Wissens schafft es ein Großteil ihrer Mandantinn­en, irgendwann wieder ohne den angstvolle­n Blick über die Schulter spazieren zu gehen.

Ein Gerichtspr­ozess sei ein ganz wichtiger Schritt zurück in den Alltag. „Gerechtigk­eit hilft“, sagt Zech. Ein Urteil rücke das Gefälle zwischen dem mächtigen Täter und dem ohnmächtig­en Opfer wieder zurecht. Drei Sätze hat Zech schon tausendmal zu Frauen gesagt: „Wenn Ihnen so was passiert, erstatten Sie Anzeige. Sonst schützen Sie den Täter. Sonst geraten andere Frauen in Gefahr.“Schaut man auf

die Zahlen der Polizei, so ist in Augsburg – obwohl Großstadt – die Gefahr, Opfer einer Vergewalti­gung zu werden, nicht wesentlich höher als in anderen Teilen der Region. Zuletzt beobachtet­e man bei der Polizei jedoch eine Häufung von sexuellen Übergriffe­n auf Frauen im öffentlich­en Raum. Seit Oktober wurden in der Innenstadt in vier Fällen Frauen von einem Mann bedrängt und festgehalt­en. Dass es in allen nicht zu einer Vergewalti­gung kam, ist nach Einschätzu­ng der Polizei nur den Umständen zu verdanken.

Wie im Fall einer Attacke Mitte November in der Nähe des Eisstadion­s. Eine 22-jährige Frau ist nachts gegen 4.40 Uhr auf dem Weg nach Hause, als sie plötzlich von einem Täter gepackt und in einen Hinterhof gezogen wird. Nur weil sie sich heftig wehrt, lässt der Mann wieder von ihr ab und flüchtet. In einem anderen Fall wird eine Frau von einem Täter frühmorgen­s auf dem Weg zur Arbeit bedrängt und festgehalt­en. Hier passiert nicht mehr, weil zufällig ein Passant vorbeikomm­t und der Täter deshalb die Flucht ergreift. Die Häufung dieser Taten sorgt für Verunsiche­rung.

Nach Informatio­nen unserer Redaktion geht man nun aber bei der Augsburger Polizei davon aus, dass mehrere Übergriffe aufgeklärt sind. Im Verdacht steht ein 29-jähriger Mann aus Gambia. Er hat Mitte November an einer Straßenbah­nhaltestel­le beim Klinikum eine Frau überfallen und versucht, ihr das Handy zu rauben. Kurz darauf wurde er festgenomm­en. Der Mann wohnte in einer erst kürzlich eröffneten Augsburger Außenstell­e des Donauwörth­er Ankerzentr­ums. Mindestens vier sexuelle Übergriffe schreiben ihm die Ermittler aktuell zu. Darf man sich jetzt wieder sicher fühlen als Frau?

Adolf Gallwitz, 67, ist Polizeipsy­chologe. Er sagt: „Frauen haben zu Recht das Gefühl, weniger sicher zu sein.“Gallwitz war Fallanalyt­iker an der Polizeihoc­hschule in Villingen-Schwenning­en und Gutachter für den Internatio­nalen Gerichtsho­f in Den Haag. Seine Annahme macht er vor allem an zwei Punkten fest.

Erstens: „Wir erleben eine Sexualisie­rung der Gesellscha­ft. Sex ist präsent in der Freizeit, in der Werbung, in Filmen, im öffentlich­rechtliche­n Fernsehen. Das verändert das Kopfkino, verändert die Vorstellun­gen vor allem von Männern – auch im Privaten.“

Dieser Wandel führt in den Augen des Psychologe­n direkt zu Punkt zwei: Gerade Zuwanderer hätten Probleme mit der Offenherzi­gkeit unserer Gesellscha­ft. Ihnen fehle die Erfahrung bei der Interpreta­tion der Körperspra­che einer europäisch­en Frau. „Manche verstehen die Signale falsch“, sagt Gallwitz. „Sie denken nach dem Motto: ,Wer fast alles zeigt, ist in meinem Land meist eine leicht verfügbare Frau, eine Prostituie­rte – und dann muss das hier doch auch so sein.‘“

Und dann sei da noch etwas, was ganz generell die Ängste der Menschen potenziere: die Befürchtun­g eines sozialen Abstiegs, den rechte Parteien geschickt nutzen, um die Gesellscha­ft zu spalten. Wer um die materielle Sicherheit der Familie, den Beruf oder die Rente, kurz: um den eigenen Wohlstand fürchte, werde empfänglic­h für Sorgen, Ängste und Nöte aller Art – und steigere sich auch in seine diffuse Angst vor Kriminalit­ät hinein. Gallwitz sagt, er könne dutzende Studien nennen, die das belegen.

Marion Zech, die Augsburger Opferanwäl­tin, hört seit fast drei Jahrzehnte­n nahezu jeden Tag die Geschichte­n missbrauch­ter Frauen. Trotzdem, sagt sie, hat sie sich selbst noch nicht eine Minute unsicher gefühlt. Das könne sie sich in ihrem Job auch nicht leisten. „Ein Anwalt, der mitleidet und Ängste bestätigt, nützt einer Frau überhaupt nichts. Ich darf ein Opfer nicht runterzieh­en“, sagt sie. „Ich muss es wieder aufrichten.“

Zech erinnert sich an einen Fall vor vielen Jahren. Ein Mädchen war beim Joggen missbrauch­t und ermordet worden. Die Tat geschah gegen 18 Uhr, gerade als es dunkel wurde. „Auch meine Zeit zum Joggen“, erzählt Zech. Die Mutter des Mädchens wollte ihr das Verspreche­n abnehmen, nie wieder allein im Dunkeln laufen zu gehen.

Doch sie tut es bis heute.

„Viele Opfer sagen: Wenn ich das lese, ist alles wieder präsent.“

Marion Zech

„Frauen haben zu Recht das Gefühl, weniger sicher zu sein.“

Adolf Gallwitz

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Symbolfoto: Julian Stratensch­ulte, dpa Allein unterwegs bei Nacht, und plötzlich ist da dieses mulmige Gefühl: Viele Frauen kennen das.
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