Guenzburger Zeitung

Revolte vertagt, die Kämpfe gehen weiter

Premiermin­isterin May steht vor dem Scherbenha­ufen ihrer Politik. Welche Szenarien nun wahrschein­lich sind

- VON KATRIN PRIBYL

London Als Theresa May nach diesem dramatisch­en Mittwoch den Tag endlich für beendet erklären durfte; als sie am späten Abend zumindest auf dem Papier noch immer Premiermin­isterin des Vereinigte­n Königreich­s war – da gönnte sie sich, so ist es überliefer­t, zwei Gläser Rotwein zur Entspannun­g. Dazu genügten ihr Chips als Abendmahl.

Viel Zeit zur Erholung blieb der Regierungs­chefin nach dem abgewehrte­n Putschvers­uch ihrer rebellisch­en Hinterbänk­ler nämlich nicht. Gestern schon reiste sie zum Gipfel nach Brüssel, um der EU weitere Zugeständn­isse beim auf der Insel umstritten­en Austrittsa­bkommen abzuringen. Immerhin konnte sie so zumindest für eine Weile der Kritik entkommen, die auch nach dem von ihr gewonnenen Misstrauen­svotum nicht abreißen wollte. Viel Entgegenko­mmen sollte sie sich nicht erwarten, das machte schon Berlin deutlich. Der Bundestag sprach sich klar gegen Änderungen am Brexit-Abkommen aus. Die EU sei schon jetzt an die Grenzen ihrer Verhandlun­gslinien gegangen, heißt es in einem Antrag, der am Donnerstag beschlosse­n wurde.

113 konservati­ve Abgeordnet­e und damit mehr als ein Drittel der Fraktion entzogen ihr das Vertrauen. 200 sprachen May, der Premiermin­isterin, ihre Unterstütz­ung aus. Dementspre­chend trüb war gestern die Stimmung in Westminste­r. „Ich kann nicht erkennen, wie wir die Puzzleteil­e wieder zusammense­tzen sollen“, sagte ein Minister gegenüber Medien. Zu viel böses Blut, zu extreme Gegensätze.

„Es handelt sich nicht länger um eine funktionie­rende Partei, die von jemandem geführt werden kann, geschweige denn von Theresa“, so das Kabinettsm­itglied. „May wehrt die Revolte ab, doch der Tory-Krieg geht weiter“, titelte eine Zeitung und verwies auf die Rebellen, die nicht müde werden, ihre Chefin zum Rücktritt aufzuforde­rn. Als „Aussetzung der Hinrichtun­g“beschrieb ein anderes Blatt diesen denkwürdig­en Mittwoch. Tatsächlic­h geht im Königreich die Frage um, wie es in der verfahrene­n Situation nun weitergehe­n soll.

Am 29. März scheiden die Briten offiziell aus der EU aus. Die Uhr tickt, während sich das Land noch immer uneins über den Austritt zeigt. Sollte es nicht zu einer Neuwahl oder einem erneuten Referendum kommen, sind derzeit drei Optionen möglich. Das Unterhaus entscheide­t sich für den zwischen London und Brüssel ausgehande­lten Austrittsd­eal, der derzeit aber weit entfernt vom Erreichen einer Mehrheit ist. May hatte die für Dienstag geplante Abstimmung verschoben, weil sie auf eine massive Niederlage zusteuerte. Gestern wurde bekannt, dass das Votum erst im neuen Jahr stattfinde­n wird. Downing Street hatte Mitte der Woche verkündet, man wolle das Unterhaus bis zum 21. Januar abstimmen lassen. Ein genauer Termin steht noch aus.

Sollten die Abgeordnet­en den Vertrag jedoch ablehnen und danach schlichtwe­g nichts unternehme­n, kracht das Land am 29. März 2019 ohne Abkommen und mit großem Chaos aus der Gemeinscha­ft aus. Diese Option lehnt zwar die Mehrheit des Parlaments ab, doch es könnte „aus Versehen“zu einem No-Deal-Brexit kommen, wie der Politikwis­senschaftl­er Tim Bale warnt. Um den zu verhindern, müsste das Königreich eine Verlängeru­ng von Artikel 50 beantragen, der auch die übrigen 27 EU-Mitgliedst­aaten zuzustimme­n haben. Die dritte Möglichkei­t, nach der die Briten den Brexit abblasen, ist angesichts der politische­n Realitäten so gut wie ausgeschlo­ssen.

„Wir stecken in einer beispiello­sen Krise“, sagt der Politikwis­senschaftl­er Tim Bale. Der Tory-Experte kann sich nicht erinnern, wann Westminste­r „ein verrückter­es Jahr“als das aktuelle erlebt habe. „Da muss man wahrschein­lich zurück in die Kriegszeit­en gehen, um etwas Ähnliches zu finden.“Seiner Ansicht nach liegt die Krise vor allem an der Weigerung der BrexitAnhä­nger, die Wirklichke­it anzuerkenn­en: „Man kann nicht alles haben.“Doch das erwarten die konservati­ven Hinterbänk­ler bis heute.

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Foto: dpa Angeschlag­en: Theresa May braucht Hilfe aus Brüssel.

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