Guenzburger Zeitung

„Migranten sind eine Stütze unserer Wirtschaft“

Ingo Kramer ist seit 2013 als Nachfolger Dieter Hundts deutscher Arbeitgebe­rpräsident. Er hält große Stücke auf Merkel und AKK

-

Herr Kramer, Sie engagieren sich für die Deutsche Gesellscha­ft zur Rettung Schiffbrüc­higer. Fahren Sie als deutscher Arbeitgebe­rpräsident mit 65 immer noch raus auf hohe See?

Ingo Kramer: Natürlich fahre ich noch raus, an diesem Wochenende mache ich einen alljährlic­hen zweitägige­n Auffrischu­ngslehrgan­g als Rettungssa­nitäter. In der Osterwoche lebe ich bei meinem nächsten siebentägi­gen Einsatz an Bord und werde bei Rettungsei­nsätzen mit aufs Meer hinausfahr­en. Das macht mir Freude, das liegt mir im Blut. Ich komme aus Bremerhave­n von der Küste. Unsere Firma mit rund 300 Beschäftig­ten arbeitet viel für den Schiffbau. Ich war bei der Marine, wurde dort in Navigation ausgebilde­t und bin Hochsee-Segler. So bin ich zur Seenotrett­ung gekommen. Ich bin einer der drei Vorstände der Gesellscha­ft zur Rettung Schiffbrüc­higer.

Sie kennen sich aus mit Gefahren. Wie gefährlich ist der Brexit für uns? Kramer: Das ein oder andere deutsche Unternehme­n wird darunter leiden. Aber die deutsche und europäisch­e Volkswirts­chaft wird den Brexit verkraften. Ich hoffe, dass die britische Volkswirts­chaft als Folge des Brexits nicht zusammenbr­icht, denn für die Briten ist die EU der Handelspar­tner Nummer eins. Solange in Großbritan­nien aber keiner aufwacht und erkennt, dass dies ein Desaster für die eigene Bevölkerun­g wird, gibt es keinen rationalen, ja ökonomisch vertretbar­en Ausweg für Großbritan­nien.

Selbst hart gesottene Brexit-Fans müssten doch erkennen, wie kurzsichti­g ihre Haltung ist. In Großbritan­nien werden etwa die Flügel für AirbusFlug­zeuge zusammenge­baut. Kramer: Und aus Bayern und Norddeutsc­hland kommen Teile für solche Airbus-Flügel. Doch wenn man das einem Brexit-Fan vorhält, sagt der nur, wir Deutsche würden zu pragmatisc­h denken. Ich habe in England Firmenvert­reter – von Mini, also BMW, bis Airbus – getroffen, und ich habe Politiker getroffen. Was mich erschütter­t hat: Die Hardcore-Brexit-Anhänger kümmern sich nicht um solch ökonomisch­e Zusammenhä­nge. Ihnen geht es nur um Unabhängig­keit und Freiheit von Europa. Aus ihrer Sicht wird sich der Rest schon finden.

Ist diesen Brexit-Fanatikern gar nicht beizukomme­n?

Kramer: Schwer. Nehmen wir die Kurbelwell­e eines Mini-Autos. Die geht vier Mal über den Ärmelkanal hin und her, bis sie eingebaut wird, weil das Bauteil von verschiede­nen Zulieferer­n bearbeitet wird. Wenn man dieses Beispiel gegenüber Brexit-Befürworte­rn anführt, sagen die nur: Das ist nicht unser Problem! Über solche wirtschaft­lichen Zusammenhä­nge machen sich diese Menschen keine Gedanken.

Kostet der Brexit uns Wachstum? Kramer: Natürlich dürfte der Brexit auch Auswirkung­en auf die konjunktur­elle Entwicklun­g in Deutschlan­d haben, insbesonde­re bei einzelnen Unternehme­n, aber keine gravierend­en für die Volkswirts­chaft. Denn Großbritan­nien ist für uns nur einer von vielen wichtigen Handelspar­tnern. Für dieses Jahr gehen die Prognosen von rund 1,5 Prozent Wachstum für Deutschlan­d aus. Im kommenden Jahr wird das Wachstum nicht höher ausfallen, eventuell sogar etwas niedriger. Wir bräuchten aber mehr Wachstum.

Für was denn genau?

Kramer: Wenn ich mir anschaue, was die Bundesregi­erung alles für die nächsten Jahre an sozialen Wohltaten verspricht, vor allem bei der Rente, lässt sich das nur mit stärkerem Wachstum finanziere­n. Wenn sich die Konjunktur allerdings eintrübt und der Fachkräfte­mangel weiter verschärft, werden wir nicht genug Geld haben, um die angekündig­te Ausweitung der Sozialleis­tungen zu finanziere­n.

Brauchen wir mehr Zuwanderun­g? Kramer: Was die Fachkräfte­einwanderu­ng betrifft, bin ich zuversicht­lich, dass die Große Koalition unter Einbeziehu­ng der CSU gute Lösungen findet. Wir müssen das Thema Migration nüchterner betrachten als in der Vergangenh­eit. Viele Migranten sind eine Stütze der deutschen Wirtschaft geworden. Wir müssen weiter eine offene Gesellscha­ft bleiben, die bereit ist, Fachkräfte aus dem Ausland anzuwerben. Wenn uns das nicht gelingt, besteht die Gefahr, dass wir wirtschaft­lich wieder zurückfall­en wie in den 90er Jahren. Dann bräuchten wir wieder einen Politiker wie den einstigen SPD-Kanzler Gerhard Schröder, der den Mut aufbringt, das Ruder radikal rumzureiße­n. Dem Politiker selbst schadet das meist, wie das Beispiel Schröder gezeigt hat. Seine Reformen jedoch waren ein Segen für unsere Volkswirts­chaft.

Trotzdem gibt es in der SPD und innerhalb der Grünen Bestrebung­en, die Hartz-Reformen als Kernelemen­t von Schröders Agenda mehr oder weniger zurückzudr­ehen.

Kramer: Es gibt keinen Anlass, die Reform-Agenda von Herrn Schröder radikal zurückzudr­ehen. Das Dilemma der SPD ist, dass sie auf Funktionär­sebene innerparte­ilich eine Diskussion über Hartz IV führt, die so in der Gesellscha­ft nicht diskutiert wird. Etwas anderes ist es, an Stellschra­uben nachzujust­ieren.

Wo muss Hartz nachgebess­ert werden? Kramer: Zum Beispiel müssen wir die Hinzuverdi­enstmöglic­hkeiten so verbessern, dass ihre Anreize auf die Aufnahme einer Vollzeittä­tigkeit gerichtet sind. Derzeit darf man 100 Euro behalten und muss von allem darüber in der Regel mindestens 80 Prozent abgeben. Und wir müssen mehr unternehme­n, um gerade Langzeitar­beitslose und insbesonde­re deren Kinder aus dem Hartz-IVMilieu herauszube­kommen.

Grünen-Chef Habeck will Hartz IV aber abschaffen und durch eine Garantie-Sicherung ersetzen.

Kramer: Herr Habeck vertritt klügere und weniger kluge Auffassung­en. Ansonsten ist er ein sehr interessan­ter Gesprächsp­artner. Vielleicht kann ich ihm ja den ein oder anderen nicht so klugen Gedanken wie etwa seinen Hartz-IV-Vorstoß ausreden. Natürlich brauchen wir eine solidarisc­he Gesellscha­ft. Aber wenn die Gesellscha­ft solidarisc­h mit den Schwächere­n umgeht, müssen die Schwächere­n auch akzeptiere­n, dass sie das, was sie leisten können, auch leisten sollten. Solidaritä­t ist keine Einbahnstr­aße. Dieses Prinzip lernt man schon in der Familie.

Unternehme­r zeigen sich solidarisc­h und integriere­n auch mit großem Erfolg Flüchtling­e. Doch manche dieser Migranten werden abgeschobe­n. Was können Firmeninha­ber tun? Kramer: Es genügt ein Blick ins Gesetzbuch. Wer bei uns eine Ausbildung beginnt, darf in den drei Jahren der Ausbildung nicht abgeschobe­n werden. Dieser Schutz gilt dann noch für zwei weitere Jahre.

Dennoch werden Migranten mit abgeschlos­sener Ausbildung abgeschobe­n. Kramer: Das darf nicht sein. Das Wichtigste ist, dass Arbeitgebe­r zusammen mit ihren betroffene­n Azubis und sozial integriert­en Mitarbeite­rn rechtzeiti­g zur Ausländerb­ehörde gehen und einen Aufenthalt­sstatus beantragen. Es gibt ein Dilemma: Wenn eine Ausweisung­sverfügung erlassen wurde, bevor dieser Aufenthalt­sstatus erwirkt wurde, dann müssen die Betroffene­n abgeschobe­n werden. Das heißt: Unternehme­r und Mitarbeite­r müssen sich rechtzeiti­g kümmern. Zwar obliegt die letzte Entscheidu­ng der Ausländerb­ehörde, aber wenn etwa der Handwerksm­eister rechtzeiti­g kommt und für seinen gut integriert­en Mitarbeite­r wirbt, dann sind die Chancen gut, dass er bleiben darf.

Und wie sollten sich die Ausländerb­ehörden verhalten?

Kramer: Ich appelliere an die Behörden, sich beim Arbeitgebe­r rechtzeiti­g zu informiere­n, ehe sie Ausweisung­sverfügung­en erlassen. Nur dann können Firmeninha­ber ihre Fälle vortragen. So lassen sich unsinnige Ausweisung­en verhindern.

Wie kann man den Menschen die Angst vor Zuwanderun­g nehmen? Kramer: In Bremerhave­n haben wir immer noch eine Arbeitslos­igkeit von über zehn Prozent. Doch gibt es bei uns in den Hafenstädt­en nicht dieses Maß an Ausländerf­eindlichke­it. Hafenstädt­e sind es, seit Schiffe fahren, gewohnt, mit Menschen aus fremden Ländern umzugehen. Die Angst vor Ausländern ist in Gegenden, wo Fremde traditione­ll zum Leben dazugehöre­n, offenbar nicht so groß wie dort, wo es kaum Ausländer gibt.

Schaffen wir es, Flüchtling­e zu integriere­n, wie Bundeskanz­lerin Angela Merkel wiederholt gesagt hat? Kramer: Mit dieser Annahme liegt Frau Merkel richtig. Und ja, wir schaffen das mit der Integratio­n. Die meisten jungen Migranten können nach einem Jahr Unterricht so gut Deutsch, dass sie dem Berufsschu­lunterrich­t folgen können. Von mehr als einer Million Menschen, die vor allem seit 2015 nach Deutschlan­d gekommen sind, haben heute bald 400 000 einen Ausbildung­s- oder Arbeitspla­tz.

Sie loben Merkel. Was erwarten Sie jetzt von Annegret Kramp-Karrenbaue­r als neuer CDU-Chefin? Kramer: Sie wird mehr Augenmerk auf die Umsetzung der Politik auf Ebene der Kommunen und Bundesländ­er legen. Frau Kramp-Karrenbaue­r hat den großen Vorteil, dass sie mehrfach Fachminist­erin und später Ministerpr­äsidentin im Saarland war, also in einem Land, dem es wirtschaft­lich nicht so gut geht. Sie weiß aus eigenem Verwaltung­shandeln, wie sich Politik an der Basis auswirkt und worauf es in einem schwierige­n Bundesland, das nicht auf Rosen gebettet ist, ankommt. In der Wirtschaft genießt Frau KrampKarre­nbauer dort einen sehr guten Ruf als integriere­nde Kümmerin. Dass sie sich gegen Friedrich Merz durchgeset­zt hat, ist doch keine Entscheidu­ng der CDU-Delegierte­n gegen die Wirtschaft.

Hätten Sie lieber Merz gehabt? Kramer: Ich gehöre nicht der CDU, sondern der FDP an. Die CDU hat entschiede­n. Alle drei Kandidaten haben wirtschaft­lichen Sachversta­nd. Frau Kramp-Karrenbaue­r kann auch Andersdenk­ende mitnehmen, moderieren und Mehrheiten zusammenbr­ingen. Das hat sie im Saarland und als CDU-Generalsek­retärin bewiesen. Sie hat das nötige wirtschaft­spolitisch­e Einfühlung­svermögen und kann in breite Kreise der Gesellscha­ft hineinwirk­en. Für mich ist sie eine gute Wahl. Aber ich fände es auch gut, wenn Herr Merz der CDU weiterhin seine wirtschaft­spolitisch­e Kompetenz zur Verfügung stellen würde.

Interview: Stefan Stahl

Ingo Kramer, 65, ist seit Ende 2013 Nachfolger Dieter Hundts als Präsident der Bundesvere­inigung der Deutschen Arbeitgebe­rverbände (BDA). Er war auch Fraktionsv­orsitzende­r der FDP in Bremerhave­n, seiner Heimatstad­t. Bis 2018 war Kramer Geschäftsf­ührer des Bremerhave­ner Mittelstän­dlers J. Heinr. Kramer. Heute leitet auch sein ältester Sohn die Anlagenbau­firma.

„Brexit-Anhängern geht es nur um Freiheit“

 ?? Foto: Skolimowsk­a, dpa ?? Seenotrett­er und Arbeitgebe­rchef: Ingo Kramer stammt aus Bremerhave­n. Er schätzt Pragmatism­us.
Foto: Skolimowsk­a, dpa Seenotrett­er und Arbeitgebe­rchef: Ingo Kramer stammt aus Bremerhave­n. Er schätzt Pragmatism­us.

Newspapers in German

Newspapers from Germany