Guenzburger Zeitung

Mary Shelley: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus (63)

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Vor einigen Jahren noch, als sich mir die Augen öffneten für die Schönheite­n dieser Welt, als ich den wärmenden Strahl der Sommersonn­e empfand, das Rauschen der Blätter und das Singen der Vöglein vernahm, da wäre ich nur mit Schmerzen geschieden. Heute ist der Tod mein einziger Trost. Befleckt mit verabscheu­ungswürdig­en Verbrechen, gepeitscht von wahnsinnig­en Gewissensb­issen, finde ich nirgends anders Ruhe.“

„Leben Sie wohl! Ich gehe von Ihnen, und Sie sind das letzte Menschenwe­sen, auf dem meine Augen ruhten.

Schlafe sanft, Frankenste­in. Wärest du noch am Leben und möchtest mich in deiner Rachsucht am bittersten quälen, dann gingest du an mir vorüber, ohne mich zu töten. Aber du wußtest nicht, daß du mir damit eine Wohltat erwiesen hättest. Du warst verflucht, aber die größeren Leiden hatte ich zu tragen; denn die Reue nagt an meinem Herzen und wird nicht eher ruhen, als bis

dieses zu schlagen aufgehört hat.“„Aber bald,“rief er mit feierliche­m, ernsten Tone, „werde ich tot sein und das, was ich empfand, nicht mehr länger empfinden müssen. Und dann ist es vorbei mit diesen entsetzlic­hen Qualen. Jubelnd werde ich meinen Scheiterha­ufen besteigen und mich freuen an den lodernden Flammen, die mich umzüngeln. Und die Flamme wird in sich zusammenbr­echen und der brausende, frische Wind wird meine Asche weithin über das endlose Meer tragen. Ich werde Frieden finden; und wenn mein Geist noch weiter lebt und denkt, dann werden es andere Gedanken sein als die, die mir das Erdenleben verbittert haben. Lebt wohl!“

Rasch sprang er aus dem Fenster der Kajüte in den Kahn, der längsseits am Schiffe befestigt war. Die Wogen trugen ihn davon, immer weiter und weiter, bis er in der Dämmerung verschwand.

 ??  ?? Frankenste­in ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen … © Projekt Gutenberg
Frankenste­in ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen … © Projekt Gutenberg

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