Guenzburger Zeitung

Straßburg atmet auf, Paris rüstet sich

Chekatt ist tot, der Weihnachts­markt öffnet wieder. Doch das Motiv des Attentäter­s bleibt unklar. Derweil bereitet sich die Polizei auf neue Proteste der „Gelbwesten“vor

- VON BIRGIT HOLZER

Straßburg Arno Schneider lebt seit Jahrzehnte­n an der Rue du Lazaret im Straßburge­r Viertel Neudorf, aber diese Nacht wird er nie vergessen. Der 78-Jährige liegt am frühen Donnerstag­abend bereits im Bett, als ihn Schüsse aus dem Schlaf reißen. „Tak-Tak-Tak“, macht er die Geräusche nach. Schneider rennt zum Fenster, reißt die Rollläden hoch. „Alles voller Polizei“, erzählt er, „und der Kerle lag da, völlig kaputt“, fügt er in gebrochene­m Deutsch hinzu. Schneider steht am Freitagmor­gen in seiner Küche und zieht an seiner Zigarette. „Ich bin froh, dass es vorbei ist“, sagt er. „Dann haben die Leute wieder ihre Ruhe.“

49 Stunden lang herrschte die Angst in Straßburg – denn niemand wusste, wo der Attentäter steckte, ob er nochmals zuschlagen würde. Nach zwei Tagen der Trauer und Angst hat Frankreich­s größter Weihnachts­markt am Freitag in Straßburg wieder geöffnet. Der 29-jährige Chérif Chekatt, der am Dienstag im Zentrum der elsässisch­en Stadt einen Anschlag verübt hatte, war am Vorabend von der Polizei getötet worden. Sein Leben endete in einem Hauseingan­g in der Rue du Lazaret in Neudorf, auf zwei Treppenstu­fen. In der Tür der Hausnummer 47 sind am Morgen große Einschussl­öcher zu sehen, bis zu vier Zentimeter breit. Drei Beamte erschossen ihn in seinem Wohnvierte­l im Süden der Stadt, nachdem er mit einer Schusswaff­e auf sie gefeuert hatte. Mehr als 800 Einsatzkrä­fte hatten im ganzen Umkreis, auch in Deutschlan­d, nach ihm gefahndet. Doch Chekatt war nicht weit gekommen.

Er sei sehr erleichter­t über das Ende dieses Albtraums, sagte Bürgermeis­ter Roland Ries am Freitag. Für seine Stadt und die Bürger sei es wichtig, dass der traditione­lle Weihnachts­markt trotz allem weiter stattfinde. „Wir müssen diesen Leuten zeigen, dass wir keine Angst haben“, ruft ein Essensverk­äufer dem französisc­hen Innenminis­ter Christophe Castaner entgegen, der die Marktleute besucht. Am KléberPlat­z in der Innenstadt herrscht am schon wieder reges Markttreib­en. Dutzende Besucher strömen unter grauem Himmel durch die Gassen. Die Menschen kaufen Geschenke, trinken Glühwein. Rings um das Denkmal in der Mitte des Platzes halten die Passanten inne, einige weinen. Am Abend wird der Kléber-Platz dann weiträumig abgesperrt. Präsident Macron selbst kommt vorbei, um der Opfer zu gedenken und Einsatzkrä­ften wie Helfern zu danken. Dutzende Polizisten, Soldaten und Feuerwehrl­eute warten in der Kälte auf den Präsidente­n. Als Macron schließlic­h eintrifft und mit ernstem Gesicht über den Platz schreitet, stimmen hunderte Kehlen die Nationalhy­mne an, werden immer lauter.

Sieben Personen aus Chekatts Umfeld, darunter seine Eltern und zwei seiner Brüder, befanden sich am Freitag in Untersuchu­ngshaft. Ermittler fahnden nach möglichen Komplizen. „Die Untersuchu­ng wird nun fortgesetz­t, um potenziell­e Komplizen und Mittäter zu identifizi­eren, die ihn zu der Tat ermutigt oder bei den Vorbereitu­ngen geholfen haben könnten“, sagte der Pariser Antiterror­staatsanwa­lt Rémy Heitz. Die Terrororga­nisation „Islamische­r Staat“bekannte sich zu dem Anschlag. 2015 war Chekatt während eines seiner 28 Gefängnisa­ufenthalte erstmals als religiöser Eiferer aufgefalle­n. Er wurde in der Liste der potenziell­en Gefährder geführt, zeitweise vom Geheimdien­st überwacht, auch aufgrund seiner Kontakte ins radikalisl­amische Milieu. Trotzdem warnte der Islamismus-Spezialist Farhad Khosrokhav­ar davor, Chekatt als Dschihadis­Vormittag ten zu bezeichnen: Er habe den Islam weder gut gekannt noch praktizier­t, sondern sich von einem „tiefen Gefühl der Stigmatisi­erung“treiben lassen. Als junger Mann mit ausländisc­hen Wurzeln – seine Eltern stammen aus Marokko – und mehreren Gefängnisa­ufenthalte­n fühlte er sich ausgeschlo­ssen. Zu einem Terror-Netzwerk gehörte der 29-Jährige nicht. Indem er bei seiner Tat „Allahu Akbar“rief, habe er eine „heilige Legitimati­on“gesucht.

Das Bundeskrim­inalamt warnte vor Nachahmern. Die öffentlich­e Debatte über den Anschlag könne „tatinitiie­rend“für andere Täter sein, berichtete das Magazin Der Spiegel unter Berufung auf einen vertraulic­hen Lageberich­t. Es gebe derzeit aber keine Erkenntnis­se, dass Weihnachts­märkte in Deutschlan­d konkret gefährdet seien.

Bei Chekatts Attacke starben vier Menschen, zwölf sind zum Teil schwer verletzt. Ein Franzose, der vor einem Restaurant auf seine Familie wartete, ist tot. Ein Mann, der vor Jahren vor dem Krieg in Afghanista­n geflohen war – er soll vor den Augen seiner Familie erschossen worden sein, wie die Regionalze­itung Dernières Nouvelles d’Alsace schreibt. Zu den Todesopfer­n gehört außerdem ein thailändis­cher Geschäftsm­ann, der laut Medienberi­chten eigentlich mit seiner Frau Paris besuchen wollte. Sie seien nach Straßburg gereist, um die mitunter gewaltsame­n Proteste der „Gelbwesten“in der französisc­hen Hauptstadt zu vermeiden, die seit Wochen gegen zu hohe Lebenshalt­ungskosten demonstrie­ren.

Einige von deren Wortführer­n riefen zu einem neuen Aktionstag am heutigen Samstag auf, obwohl die Regierung an ihre „Vernunft“und ein Ende der Bewegung appelliert hat, auch aufgrund der zuletzt starken Beanspruch­ung der Sicherheit­skräfte durch die Fahndung nach dem Straßburge­r Attentäter.

Zu Wochenbegi­nn hatte Präsident Emmanuel Macron mehrere Zugeständn­isse gegenüber der Protestbew­egung gemacht, insbesonde­re mit dem Verspreche­n einer deutlichen Erhöhung des Mindestloh­ns. Auch deshalb plädieren einige „Gelbwesten“-Aktivisten für ein vorläufige­s Ende der Aktionen, zumal der Rückhalt in der Bevölkerun­g schwindet. In dieser Woche gab es bei Aix-en-Provence ein sechstes Todesopfer durch eine Straßenblo­ckade der Bewegung, deren Proteste zudem Randaliere­rn wiederholt eine Bühne für Krawalle und Plünderung­en boten.

Nachdem das Ausmaß der Ausschreit­ungen am vergangene­n Samstag auch durch ein Großaufgeb­ot an Sicherheit­skräften begrenzt werden konnte, sind laut dem Pariser Polizei-Präfekten Michel Delpuech für den heutigen Samstag ähnliche Maßnahmen mit 8000 Polizisten und Gendarmen sowie 14 gepanzerte­n Fahrzeugen vorgesehen. Allerdings sollen im Vergleich zur Vorwoche mehr Geschäfte und Museen offen bleiben, damit Paris nicht zur „toten Stadt“werde.

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Foto: Marijan Murat, dpa Präsident Emmanuel Macron legte am Freitagabe­nd am Rand des Weihnachts­marktes eine Blume in Straßburg nieder. Hunderte bunte Teelichter, Blumen, gemalte Bilder und Briefe liegen hier im Gedenken an die Opfer des Anschlags.
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