Guenzburger Zeitung

Leseglück in glücksfern­en Zeiten

Wilhelm Genazino war in seinen Romanen ein feinsinnig­er Virtuose der Melancholi­e. Nun ist der Büchnerpre­isträger im Alter von 75 Jahren in Frankfurt gestorben

- VON MICHAEL SCHREINER

Er verstand etwas von Melancholi­e. Sie war ihm schon als Kind „eine Art und Weise geworden, die Welt zu betrachten, ohne von ihr begeistert zu sein“. Wilhelm Genazino, der am liebsten Schwarz trug, schwarzer Anzug, schwarzes Hemd, hat der Literatur einen sehr eigenen Typus des Großstadtm­enschen geschenkt.

Intelligen­te Streuner, zaudernde Akrobaten im Wartesaal des Lebens, Anti-Helden, deren Scheitern auf höchstem Reflexions­niveau immer auch etwas Sanftes, Versponnen­es, Widerspens­tiges, ja Heiteres hat: Genazinos männliche Protagonis­ten, meist Akademiker, leben ein Verlegenhe­itsleben in Gelegenhei­tsjobs, verstrickt in Beziehungs­probleme. Sie streuen Sand ins Getriebe von Erfolg, Logik und Zielstrebi­gkeit und haben „kein Talent zu einem sogenannte­n normalen Leben“, wie es in „Wenn wir Tiere wären“heißt. Diesen Figuren beim Problemati­sieren, Verwahrlos­en und beredten Ausharren beiwohnen zu können, ist ein schmerzhaf­tes Vergnügen für den Leser. Unerschöpf­lich schien Wilhelm Genazinos Schaffensk­raft, wenn es darum ging, brotlose Königswege des unvollende­ten Lebens aufzuzeich­nen.

Der Lebensraum der GenazinoRo­manfiguren war der Lebens- und Erfahrungs­raum des Autors: Frankfurt am Main, die Stadt, in der der 1943 in Mannheim geborene Genazino seit Jahrzehnte­n lebte und schrieb. Sätze schrieb, die so nur Genazino schreiben konnte. Sätze wie „Die Gründe fürs Schweigen vermehren sich rasend“, „Ich wollte nicht der Mensch sein, der ich war“oder „Mein Hauptanlie­gen war die allgemeine Lebensersp­arnis“. Genazino schrieb seine Bücher auf der Schreibmas­chine. Mit Computern konnte er nichts anfangen. Dem Zeitgeist begegnete er mit seinem gedehnten Blick der begründete­n Melancholi­e. „Es bedarf heute einer gediegenen, fast schon wehrhaften Melancholi­e, um den Übergriffe­n der Unterhaltu­ngsindustr­ie standzuhal­ten“, schrieb der vielfach ausgezeich­nete Genazino. Unter anderem, bezeichnen­d, erhielt er 2013 auch den Kassler Literaturp­reis für grotesken Humor.

Wilhelm Genazino war ein meisterhaf­ter Beobachter des Alltags. Details wie eine Hose, die an einem Bügel auf dem Balkon verwittert, eine schlafende Ente, die auf einem Bein steht, ein Kind, das aus einem Kinderwage­n schaut, verwandelt­e der Schriftste­ller in wundervoll­e Schlüsselm­omente von Literatur. „Wenn man lange genug irgendwo hinschaut, verschwind­et das Banale“, sagte er einmal in einem Interview mit unserer Zeitung. „Die Dinge haben immer Bedeutung, sie sammeln wie eine Batterie eigenen Lebensstof­f an.“

Genazino war ein Stadtgänge­r, ein Flaneur, der Beobachtun­gen sammelte und auf Zetteln notierte, die er immer bei sich trug und dann in seinem Werktagebu­ch abheftete. Dort, in dutzenden Leitz-Ordnern, die der Autor erst kürzlich als Vorlass an das Marbacher Literatura­rchiv übergab, sammelte sich das Rohmateria­l für seine Romane, die selten über 200 Seiten dick wurden und sehr eigene, eben Genazino-typische Titel tragen. „Die Obdachlosi­gkeit der Fische“, „Die Liebesblöd­igkeit“, „Das Glück in glücksfern­en Zeiten“, „Bei Regen im Saal“und zuletzt, erschienen im Frühjahr 2018, „Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze“. 2017, auf einer Literaturv­eranstaltu­ng unserer Zeitung in der Augsburger Stadtbüche­rei, sagte der 74-Jährige, er habe „großes Vergnügen, Titel zu machen. Ich habe weit mehr Titel als Romane“.

Dabei ist das Werk Genazinos, der zunächst als Journalist unter anderem für Pardon gearbeitet hatte, umfangreic­h. Über seinen 1965 erschienen Erstling „Laslinstra­ße“mochte er nicht mehr sprechen. Die „Abschaffel“-Trilogie, in der er Ende der 1970er Jahre ein Angestellt­enleben ausleuchte­te, machte ihn bekannt. In „Die Liebe zur Einfalt“schrieb er berührend über seine Eltern. Verlässlic­h im Zweijahres­takt veröffentl­ichte der 2004 mit dem Büchnerpre­is ausgezeich­nete Genazino neue Bücher für eine immer größere Lesegemein­de. Mit den Romanen „Ein Regenschir­m für diesen Tag“(2001) und „Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman“(2003) war Genazino auf dem Höhepunkt seines Erfolgs. Neben Romanen verfasste der Frankfurte­r Flaneur auch viele Essays, er glänzte als Bildbetrac­hter, schrieb über Melancholi­e, Komik und Poesie; auch Theaterstü­cke und Hörspiele gibt es aus seiner Feder.

In Augsburg sagte Wilhelm Genazino vergangene­s Jahr: „Ein Roman ist ein dem Leben ähnlicher Vorgang. Ein Schriftste­ller lebt, weil er schreibt.“Am Mittwoch ist Wilhelm Genazino, der eine Tochter hinterläss­t, nach kurzer Krankheit 75-jährig in Frankfurt gestorben, wie sein Verlag Hanser mitteilte. Auch wenn er nicht mehr schreiben wird: Sein Werk lebt weiter.

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Foto: Arne Dedert, dpa Wilhelm Genazino (22. Januar 1943 bis 12. Dezember 2018).

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