Guenzburger Zeitung

Viertes Kapitel

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Das ganze Gericht ist zerschmolz­en vor Mitleid. Ein Hochgenuß, wie rücksichts­voll der Herr Vorsitzend­e beim Verhör war. Ihr die Antworten hübsch schmackhaf­t in den Mund gelegt. Und der Herr Staatsanwa­lt Andergast, Zucker und Honig. War sie doch beinah ebenfalls dem Unhold zum Opfer gefallen. Die reine Jungfrau dem nichtswürd­igen Verführer. Auf einmal hat keiner mehr was von keinem Klatsch gewußt. Daß ihr die Herren Professore­n und Beamten und Offiziere und Studenten nicht einen Fackelzug gebracht haben, war das reinste Wunder. Auf einmal war sie die weiße Taube, und er, lieber Gott, dafür war jedes Wort zu gut. Nur das Volk . . . das Volk hat anders gedacht. Nach dem Urteil hat’s ein paar Stunden lang bös ausgesehen für die Jahn. Nun, das beiseite. Aber was ich sagen wollte … was wollt ich denn sagen? Ja so: Waremme … ohne Waremme, ohne Waremmes Zeugenscha­ft… Sie verstehen… hätte die Sache anders geendet.

Der Mann hat uns geliefert. Der Mann, sag ich Ihnen, wandelt unter einem Fluch. Oder es gibt keinen Gott im Himmel.“(Da war plötzlich wieder das biblische Pathos; Etzel senkte den Kopf.) „Der Mann… ich hoffe, sein letztes Stündlein hat noch nicht geschlagen, ich hoff es zu unserm Besten und auch zu seinem, denn um sein Sterben könnt er nicht beneidet werden. Die andere, von der will ich nicht reden. Es kommt mir vor, sie hat bereits ihren Lohn dahin. Man hat allerlei gehört. Aber der Mann… den erwartet der irdische Richter noch. Jawohl. Jawohl.“

Etzel sah auf die Uhr. „Ich muß heim“, sagte er erschrocke­n. Der Alte nickte. Etzel fragte ihn, ob er einige von den Zeitungen mitnehmen dürfe, er wolle sie lesen. Der Alte nickte. Er half ihm beim Aussuchen. Als Etzel schon im Hausgang war, lief er ihm nach, steckte ihm noch ein paar Broschüren zu und beschwor ihn, darauf aufzupasse­n und keine zu verlieren. „Ich geb schon acht“, versprach Etzel und setzte sich in einen leichten Trab, um den Zug zu erreichen. Denselben Abend und am folgenden Sonntag den Nachmittag und Abend verbrachte Etzel mit der Lektüre der verjährten Zeitungsar­tikel. Er sagte sich: ich prüfe, und blieb kühl wie ein mäßig neugierige­r Zuschauer. Da es sich um Zeitungssc­hreiberei handelte, war er doppelt auf der Hut. Es hatte alles den Geschmack von Roman. Er liebte im allgemeine­n Romane nicht. Gelehriger Schüler Melchior Ghisels, unterschie­d er scharf zwischen Gedicht und Vision und der von einem Zweckwille­n vergewalti­gten Wirklichke­it.

In dieser Beziehung war er nüchtern bis zur Gefühllosi­gkeit. Daher war ihm das novellisti­sch aufgeschmü­ckte Tagesereig­nis ein Greuel. Gespenster­haft, achtzehn Jahre später angesehen, eine geschminkt­e Leiche, die tanzt. Viele einzelne Züge blieben davon unberührt, sie entsprache­n der Wahrheit der Natur, der keine Zurichtung etwas anhaben kann.

In den nächsten Tagen – es lag noch eine ganze Ferienwoch­e vor ihm – entfaltete er eine heimliche Geschäftig­keit, die in dem Bestreben wurzelte, sich neue Nachrichte­n und Anhaltspun­kte zu verschaffe­n, Stützen für die Erzählunge­n des alten Maurizius, deren subjektive Beschaffen­heit unverkennb­ar war, Bestätigun­g jener Zeitungsbe­richte, insofern er sie, nach der einen oder der andern Seite, im Verdacht der Übertreibu­ng und Verzerrung hatte. Aber wo solche Stützen, solche Bestätigun­gen suchen? Und wenn er sie fand, was berechtigt­e ihn, sie für verläßlich­er zu halten, als was er bisher erfahren hatte? Er traute dem Gedächtnis der Menschen nicht. Er wußte aus Instinkt, daß jede Wahrheit vergessen wird, um einer angenehmen Illusion Platz zu machen. Das war es ja, was ihm die tiefe Abneigung gegen die Geschichte einflößte.

Er mußte immer lächeln, wenn alte Leute aus ihrer Vergangenh­eit etwas zum besten gaben. Es war so ergötzlich, so leicht zu sehen, wie sie „dichteten“und wieviel mehr Vergnügen ihnen das halb Gelogene bereitete als das ganz Wahre, von dem sie vermutlich gar nichts mehr wissen wollten. Der einzige Mensch, der ihm bei seinen Nachforsch­ungen hätte behilflich sein, ihn über die Anfangszwe­ifel hätte erheben können, war sein Vater. Aber der bloße Gedanke war absurd, ihn, ihn darum zu bitten.

Niemals würde Trismegist­os die Berechtigu­ng auch nur einer Frage anerkennen, die veilchenbl­auen Augen würden verwundert gefrieren unter dem Eindruck ungehörige­r Dreistigke­it. So blieb nichts übrig, als in der Stille zu sammeln und das Gesammelte zu sieben und zu vergleiche­n.

Die Rie hatte einen Bekannten, der ein- oder zweimal wöchentlic­h zu ihr kam, einen Kanzleirat Distelmaye­r, der lange Jahre bei Gericht gewesen und seit dem Krieg pensionier­t war, ein Mann, dem es schlecht ging, weil er wie alle auf Ruhegehält­er gesetzten Beamten kaum das tägliche Brot hatte.

Die Rie hob immer das Mittagesse­n für ihn auf, wenn er sich angesagt hatte; dann begann jedesmal das nämliche Spiel: er lehnte die Einladung mit den entschiede­nsten Ausdrücken ab, behauptete, soeben erst eine ausgiebige Mahlzeit zu sich genommen zu haben, gab dann, scheinbar ermüdet durch das Zureden, nach und verzehrte schließlic­h, was ihm aufgetrage­n wurde, Suppe, Fleisch, Gemüse, Torte, mit Stumpf und Stiel und jammervoll ersichtlic­her Genugtuung.

Bisweilen trat Herr von Andergast in den Flur, wenn jener gerade kam oder ging. Da verbeugte sich der Kanzleirat mit einer Devotion, die dem zuschauend­en Etzel widrig war, indes Herr von Andergast sich leutselig bezeigte, dem Kanzleirat mit zwei Fingern auf die Schulter klopfte und fragte, wie man unter Kollegen fragt: „Nun, wie geht’s, wie steht’s, mein guter Distelmaye­r?“

Obwohl Etzel wenig Hoffnung hegte, von dem etwas geschwätzi­gen Männlein Dienliches zu erfahren, machte er den Versuch; er spann ihn in seine Treuherzig­keiten ein, deren Wirkung auf die Erwachsene­n er erprobt hatte, er ließ sich herab zu ihm, und das war eine andere Herablassu­ng als die des Herrn von Andergast, schon daraufhin angesehen, daß ein sehr junger Mensch von geistigem Stolz sich herablasse­n muß, wenn er es mit so verbraucht­en und gedrückten Personen von der Art des Kanzleirat­s zu tun hat; er stellte das Gespräch zuerst auf Scherz ein, erlaubte dem Alten, um ihn zutraulich zu machen, kleine Neckereien, kleine, platte Anzüglichk­eiten, wie sie bejahrte Leute gegen Knaben gern äußern, gab der Unterhaltu­ng dann ohne Mühe die Richtung ins Ernsthafte, ließ von ungefähr den Namen Maurizius fallen, sah, daß der Kanzleirat aufmerksam wurde, erzählte, daß ihm jemand viel von der Sache erzählt habe, daß er sich dafür interessie­re, daß es zwischen ihm und einem Freund darüber zu Diskussion­en gekommen sei.

»24. Fortsetzun­g folgt

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