Kerkerszenen aus dem Biedermeier
Dietrich W. Hilsdorf inszeniert Beethovens „Fidelio“im Theater Ulm als Lustspiel zwischen kleinbürgerlichem Idyll und Repression. Den größten Horror verbreitet dabei nicht die Staatsgewalt
Ulm Auch in einem Loch kann man es sich gemütlich machen. Mit Rotkäppchen als Bild an der Wand und mit dem röhrenden Hirsch als Decke auf dem Sofa. Ausgerechnet hier soll die als Bursche Fidelio verkleidete Leonore in Ludwig van Beethovens gleichnamiger Befreiungsoper den unschuldig eingekerkerten Florestan und mit ihm gleich die Freiheit der Menschheit retten. Aber im Theater Ulm ist alles erst einmal eine Nummer kleiner, menschlicher – und spießiger: Dietrich W. Hilsdorf macht mit seinem Team (Bühne: Dieter Richter, Kostüme: Bettina Munzer) aus Beethovens einziger Oper, die so oft für revolutionäres Pathos herhalten musste, eine Art Lustspiel. Eine Inszenierung aus einem Guss und mit starker Musik im zur Premiere ausverkauften Großen Haus.
Der 70-jährige Hilsdorf ist einer gefragtesten deutschen Opernregisseure, vor allem, wenn es um die Klassiker geht. Zuletzt finalisierte er unter anderem Wagners „Ring“in Düsseldorf. Dass er nun den „Fidelio“am kleineren Theater Ulm inszenieren konnte, lag an zwei Umständen. Zum einen feiert das Haus in dieser Spielzeit das 50-Jährige des Architekt Fritz Schäfer entworfenen Theatergebäudes, weshalb Stadt und Land ein bisschen mehr Geld für den Spielplan lockergemacht haben. Zum anderen ließ sich Hilsdorf von Intendant Kay Metzger gerne überzeugen: Von 1980 bis 1985 war er in Ulm unter Intendant Volkmar Clauß als Oberspielleiter und Hausregisseur, damals noch im Schauspiel, tätig.
„Fidelio“ist Hilsdorfs erste Ulmer Regiearbeit seit 34 Jahren. Und er zeigt, dass er diesem SpielplanDauerbrenner neue Perspektiven abzuringen vermag, ohne ihn mit Regie-Spielereien zu dekorieren. Wobei die Dekoration mit Hirsch und Rotkäppchen bereits die Richtung aufzeigt: Statt „Die eheliche Liebe“lautet der Untertitel nun „Szenen aus dem bürgerlichen Heldenleben oder Der ganz alltägliche Wahnsinn des Biedermeier“. Der Ulmer „Fidelio“spielt zwischen Rückzug und Repression, zwischen bürgerlichem Idyll und Polizeistaat. Also genau in jener Umgebung, in der die Endfassung der Oper 1814 uraufgeführt wurde. In einem Europa, das sich nach Napoleon neu ordnete – und in dem die Freiheit am Boden lag.
Regisseur Hilsdorf und Generalmusikdirektor Timo Handschuh halten sich aber nicht an diese vermeintlich endgültige Version, sondern haben einen eigenen Ulmer „Fidelio“zusammengebaut: Zu Beginn erklingt die 1806 dritte „Leonoren“-Ouvertüre, gefolgt von Marzellines Arie. Aus der Urfassung finden das Terzett „Ein Mann ist bald genommen“und das Duett Marzelline-Leonore zurück in die Oper. Was musikalisch reizvoll und dramaturgisch sinnvoll ist, denn so wird das Biedermeierliche und Lustspielhafte in Beethovens Bühnenvon werk akzentuiert. Die gesprochenen Dialoge der Nummernoper hat Hilsdorf komplett gestrichen, der Ulmer „Fidelio“ist jetzt eine Folge aus 25 musikalischen Szenen, bei der auf der Übertitelanlage jeweils die passende Zahl eingeblendet wird. (Leider aber nicht die Texte, was angesichts der Akustik im Großen Haus ein willkommener Service wäre.)
Diese Streichung macht den Einstieg schwieriger, aber ein Schaden ist sie nicht, die Inszenierung erzählt die Geschichte auch so verständlich. Nach der viertelstündigen Ouvertüre, bei der das für Beethoven nicht eben überbesetzte Philharmonische Orchester unter Handschuhs Leitung wie auch im weiteren Verlauf der Premiere das Maximum herausholt, sieht man direkt Marzelline (Maryna Zubko) beim Bügeln ihres Hochzeitskleides. Und dann entfaltet sich der Biedermeier-Wahnsinn: Jaquino (Luke Sinclair) drängt Marzelline zur Vermählung, Marzelline will aber lieber Fidelio (Erica Eloff), was Papa und Kerkermeister Rocco (Guido Jentjens) sehr unterstützt. Alles dreht sich nur um Heirat und Familie: Ein Horrorszenario mit Spitzenrand, in dem das Hereinplatzen von Bösewicht Don Pizarro (Dae-Hee Shin) und seinen bewaffneten Uniformträgern fast absurd wirkt. Dafür passt es umso besser, dass der Gefangenenchor tumb umherstolpert wie ein Zombie-Pulk.
Premierenbesetzung Erica Eloff ist innerhalb des durchweg gut aufgelegten Ensembles ein vorzüglicher Fidelio, sie verleiht stimmlich gerade den leisen Tönen eine betörende Zartheit, während sie schauspielerisch gleichzeitig verblüffend den jungen Mann mit gebrochener Virilität gibt. Bemerkenswert, wie nah sich sie und Markus Francke als Florestan gesanglich kommen: Er ist ein Wrack, grau und von der Kerkerhaft zerstört, aber in ihm glimmt noch ein l(i)ebender Kern. Und der Tenor schafft es, sogar dann seine Würde zu bewahren, nachdem ihn Rocco (beziehungsweise die Regie) in das anfangs genähte Kleid gesteckt hat.
Das kleinbürgerliche Lustspiel, als das „Fidelio“begonnen hat, ist da längst beendet, die Bühne in kaltes Gefängnis-Neonlicht getaucht, der Wind der Revolution weht durch das Theater. Aber es sind nicht die Männer, sondern die Frauen, mutige Suffragetten, die zum Finale die Freiheitsfahne schwenken. „Wer ein holdes Weib errungen, stimm’ in unsern Jubel ein“, fordert Florestan, noch immer im Kleid, die Menge auf. Kein Wunder, dass Leonore-Fidelio nicht mitjubiliert. Der Weg zurück ins biedermeierliche Eheglück wird schwer.
Das Publikum belohnt die Leistung von Solisten, Chor, Orchester und Regie mit lang anhaltendem Applaus und Bravo-Rufen.
Alles dreht sich nur um Heirat und Familie
Termine Wieder am 29. September sowie am 1. und 4. Oktober; weitere Vorstellungen bis Mai 2020.