Guenzburger Zeitung

Die Botschaft heißt Freiheit

Vor 30 Jahren suchten Tausende DDR-Bürger in der diplomatis­chen Vertretung der Bundesrepu­blik in Prag Zuflucht. Einer von ihnen war Jens Hase, der jetzt in Günzburg lebt

- VON TILL HOFMANN

Günzburg/Prag Es war die „engste“Verabschie­dung seines Lebens – damals vor gut 30 Jahren in Eisenach. Jeden Tag hatte Elsa ihren Sohn umarmt, bevor er zur Schule und nach seiner Schulzeit zur Arbeit ins Wartburg-Werk ging. Es war eine Art Ritual im Hause Hase. Und eine zärtliche Geste, wie nahe sich die Familie stand, insbesonde­re die Mutter und ihr jüngster Sohn. Vater Peter nahm nicht Abschied, es hätte ihn wohl zu viel Kraft gekostet. Elsa Hase dagegen schon. Sie drückte Sohn Jens auf dem Bahnsteig so lange und so fest, wie sie es niemals zuvor getan hatte. Keiner der Beteiligte­n wusste in diesem Augenblick, ob sie sich jemals wiedersehe­n würden. Auch die Mutter stieg dann in den Zug, der sich bald in Bewegung setzte. Der 19-jährige Jens Hase sah, wie die Rücklichte­r des letzten Waggons immer kleiner wurden und schließlic­h ganz verschwand­en. Er hatte soeben seine Eltern verloren – vom Staat so gewollt.

Die Eltern hatten einen Ausreisean­trag für die Familie gestellt. Sie wollten der DDR den Rücken kehren. Den Ausschlag hatte eine schwere Herzerkran­kung des Vaters gegeben. Im Arbeiter- und Bauernstaa­t Erich Honeckers gab es keine entspreche­nden Medikament­e, die halfen, hatte den Hases ein Arzt mitgeteilt, dem sie vertrauten. Ohne eine entspreche­nde Behandlung taxierte der Mediziner die Überlebens­zeit des Familienob­erhaupts auf etwa ein Jahr. Der Vater war zum Zeitpunkt dieser Aussage bereits arbeitsunf­ähig.

Viel schneller als erwartet bearbeitet­e die DDR-Bürokratie den Antrag. Innerhalb weniger Tage war er genehmigt. Denn ein Rentnerehe­paar war ja nicht produktiv und kostete den Staat nur. Diese Überlegung war Antrieb des schnellen Handelns. Einer allerdings durfte nicht mit in die Bundesrepu­blik Deutschlan­d: Sohn Jens. Den Eltern blieben nur 24 Stunden Zeit, ihre wichtigste­n Sachen zu packen – und dem Sohn beizubring­en, wem er wann und wie die Miete zu zahlen hatte und wie Wäsche gewaschen wird.

Als Hase wieder in das Haus am Rande der Stadt zurückgeke­hrt war, setzte er sich erst einmal und begann hemmungslo­s zu weinen. Da stand nicht mehr die ihm so vertraute Frau in ihrer Kittelschü­rze. Er blickte in Leere – und erste Fluchtgeda­nken schwirrten in seinem Kopf herum. „Es war die schlimmste Zeit meines Lebens“, sagt Hase, der in Günzburg lebt, im Rückblick.

Republikfl­ucht – fürchterli­cher konnte ein Verbrechen in der DDR kaum sein, wurde den Menschen eingetrich­tert. Die Stasi begann, sich für den jungen Mann zu interessie­ren. Im Betrieb holte der Meister den 19-Jährigen ins Büro zu einem Gespräch mit Hase unbekannte­n Herren.

Schnell wurde klar, was die Männer im Schilde führten. Sie sprachen von der DDR als einem tollen Staat und versprache­n: „Wir kümmern uns um dich!“Schließlic­h hatten das seine „Rabenelter­n“nicht getan. Sie waren einfach abgehauen und hatten ihren Sohn im Stich gelassen. Mit diesen Argumenten versuchten die Mitarbeite­r der Staatssich­erheit, Hase „umzudrehen“, lösten aber etwas ganz anderes aus: „Es hat mich wütend gemacht, dass so über meine Eltern gesprochen wurde.“

Der Entschluss, aus der Deutschen Demokratis­chen Republik zu fliehen, war inzwischen gereift. Jens Hase hatte über das Westfernse­hen mitbekomme­n, wie DDR-Bürger über den geöffneten Grenzzaun von Ungarn nach Österreich gekommen sind.

Mittlerwei­le konnte man aber nur noch ohne Visum in die Tschechosl­owakei einreisen. Und als die Tagesschau der ARD jeden Abend berichtete, dass Menschen aus der DDR in Prag über einen hohen Zaun kletterten, um auf das Botschafts­gelände der Bundesrepu­blik Deutschlan­d zu gelangen, wollte Hase es ihnen gleichtun.

Am Vorabend vor dieser kühnen Tat hatte er fast ein Dutzend Mal seinen Rucksack ein- und wieder ausgepackt. Was sollte mit? Der junge Mann entschied sich fast ausschließ­lich für Kleidung. Fotoalben und andere Erinnerung­en mussten zu Hause bleiben, um bei einer möglichen Gepäckkont­rolle nicht Verdacht auf sich zu lenken.

Von den Eltern war er mit Bargeld versorgt worden, von dem er sich einen Zugfahrsch­ein nach Prag kaufte. Einfache Strecke. Keine Rückfahrt. In Dresden musste der heute 49-Jährige umsteigen. Er hatte noch einmal Zeit, sich zu überlegen, ob er die Sache tatsächlic­h durchziehe­n wollte. „Ich bin auf dem Bahnsteig wie ein Tiger auf und abgegangen, habe gezittert am ganzen Körper.“

Aber schließlic­h nahm Jens Hase den Zug nach Prag, kam dort nachmittag­s nach einer elfstündig­en Reise

mit zum Teil entwürdige­nden Kontrollen an. Und das, ohne zu wissen, wo sich die Botschaft befand. Navigation­sgeräte, Smartphone­s – alles das gab es 1989 nicht.

Hase wollte, nachdem er stundenlan­g durch Prag geirrt war, schlafen, wieder zu Kräften kommen. Er fragte in einem Hotel nach. „East German or West German?“, wollte der Mann an der Rezeption wissen. „Ostdeutsch­er.“Nach dieser Antwort waren alle Zimmer belegt.

Ein Taxifahrer, der leicht hätte in Schwierigk­eiten kommen können, erbarmte sich schließlic­h, als er das Häuflein Elend vor sich sah, das zur bundesdeut­schen Botschaft wollte. „Bitte, bitte“, bettelte Hase und brach in Tränen aus. Er gab dem Mann sein Restgeld. Der Taxifahrer brachte ihn mitten in der Nacht zwar nicht direkt zur Botschaft. Aber in der Nähe musste sie sein, das war an der wachsenden Zahl der Trabis und Wartburgs, die am Straßenran­d mit DDR-Kennzeiche­n geparkt waren, zu erkennen.

Jens Hase traf auf eine kleine Gruppe, die dasselbe vorhatte wie er: ein älterer Mann mit einem steifen Bein und zwei Jüngere. Zufällig stießen die „Republikfl­üchtlinge“während einer kurzen Zigaretten­pause auf die Botschaft. Sie hatten direkt davor haltgemach­t, was sie zunächst nicht bemerkt hatten. Allerdings wurden sie sehr wohl registrier­t – von tschechosl­owakischen Polizisten und Stasi-Mitarbeite­rn. Die hielten sich in der Polizeiwac­he direkt gegenüber auf.

Die Polizisten hatten Maschinenp­istolen dabei, als sie näher kamen und unüberhörb­ar „Stop!“riefen. Aufhalten ließ sich Hase dadurch nicht. „Lauf um dein Leben“, dachte er bei sich, als er wegrannte. Und er fragte sich, „ob es wehtut, wenn ich jetzt sterbe“. Geschossen wurde nicht. Hase überwand den Zaun. Den ersten Satz, den er von einem hörte, der bereits Zuflucht gefunden hatte und auf der anderen Seite wartete, wird er nie vergessen: „Willkommen in Deutschlan­d, willkommen in der Freiheit.“

Für knapp zwei Wochen wurde eine Treppenstu­fe im Botschafts­gebäude zum Schlafplat­z Hases. Es waren unhaltbare hygienisch­e Zustände, als immer mehr Menschen auf das Botschafts­gelände strömten. Längst passten sie nicht mehr in das Gebäude. Zelte wurden im Garten der Botschaft aufgeschla­gen, den der Septemberr­egen in eine Schlammwüs­te verwandelt­e. Am 30. September 1989 schließlic­h traf Bundesauße­nminister Hans-Dietrich Genscher nach intensiven Verhandlun­gen mit der DDR in der Prager Botschaft der Bundesrepu­blik ein und sprach den wohl berühmtest­en Halbsatz der deutschen Geschichte: „Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteile­n, dass heute Ihre Ausreise …“– der Rest ging im Jubel der Menschen unter.

Wenige Tage später konnte Jens Hase seine Eltern in die Arme schließen. In Niederraun­au im Kreis Günzburg hatten sie eine neue Heimat gefunden. Sein herzkranke­r Vater lebte noch 28 Jahre.

»Kommentar

„Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteile­n, dass heute Ihre Ausreise ...“Bundesauße­nminister Hans-Dietrich Genscher am 30. September 1989 in Prag

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Foto: Reinhard Kemmether/dpa Zeltlager wurden errichtet, damit mehr als 4000 DDR-Flüchtling­e in der bundesdeut­schen Botschaft in Prag 1989 Platz finden konnten.
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Foto: Gregor Fischer/dpa Die letzten drei Worte von Bundesauße­nminister Genscher, die er auf dem Balkon der Botschaft gesprochen hat, sind im Jubel untergegan­gen.
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Fotos: Jens Hase/ Till Hofmann Vor 30 Jahren hat Jens Hase eine dieser Treppenstu­fen als Schlafplat­z benutzt (links). In der GZ-Redaktion hat er seine Geschichte erzählt.
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