Guenzburger Zeitung

Sexy ist out, weit ist in

Klobige Sportschuh­e, überweite Kapuzenpul­lover und beißende Neonfarben. Was steckt hinter dem Fashion–Comeback der Neunziger?

- VON BENJAMIN FREUND

In den Neunzigern wurde modisch rebelliert. Jeans waren zerrissen, die Hosen weit und tief sitzend. Harte Kontraste wie das Schwarz-weißMuster oder die Kombinatio­n mehrerer knalliger Farben zogen die Blicke der Betrachter an. Das alles schien überwunden – und ist nun doch zurück. Warum? Und wie? „Das Comeback der Neunziger definiert sich über eine radikale Veränderun­g der Silhouette – von ganz eng zu ganz weit“, erklärt der Experte Carl Tillessen vom Deutschen Modeinstit­ut.

Es geht der heutigen Jugend in erster Linie um das Verhältnis zum Körper, das ein anderes ist als das der vorherigen Generation­en. „Man hat versucht, sich von der Freizügigk­eit und Übersexual­isierung der Erwachsene­n abzugrenze­n“, sagte Modeexpert­e Tillessen. Dafür eignen sich viele Kleidungss­tücke der neunziger Jahre gut. Denn Pullover, Shirts und Hosen waren fast übergroß. Und man mag sich nur an die sogenannte­n Mom-Jeans erinnern, deren Bund bis mindestens zum Bauchnabel reichte.

Das Ziel ist zudem ganz bewusst der schlechte Geschmack, „Bad Taste“also. „Junge Leute besorgen sich auf dem Flohmarkt gezielt Sachen, die einen geschmackl­ichen Tabubruch bedeuten“, erklärt Tillessen. Die Branche springt auf und produziert wieder viele Kleidungss­tücke im Neunziger-Stil – etwa Sneaker mit markanten dicken Sohlen. „Manche Schuhe sehen aus wie Traktorrei­fen“, sagt Antje Drinkuth von der Berliner Akademie Mode & Design. Doch das vermeintli­che Stil-Comeback ist keine reine Kopie der Neunziger-Mode, man verändert den Stil durchaus. Auch provokante und für heute ungewöhnli­che Materialie­n werden wieder gerne genutzt: „Für Frauen gibt es etwa lange Trenchcoat­s aus Leder oder Lack“, sagt Drinkuth.

„Bei Frauen wird heute der Hoodie etwa zum Plisseeroc­k kombiniert“, erklärt die Expertin Charlotte Schnitzspa­hn vom Fachmagazi­n Textilwirt­schaft. „Männer können Hoodie und Chunky Sneaker zur Anzugshose tragen.“Vor allem das offensive Marketing der Neunziger sei auf den Klamotten nicht mehr so stark präsent. „Die Logos sind mittlerwei­le zunehmend subtiler und werden zum Beispiel nicht nur plakativ auf der Brust, sondern auch auf Ärmeln aufgedruck­t oder in Grafiken verarbeite­t“, sagt Modeexpert­in Schnitzspa­hn. Dazu hat sich die Farbpalett­e erweitert. „Zu den knalligen Farben von damals kommen heute Pastell- und Sandtöne.“

Der Rückgriff auf die Elemente der Neunziger-Mode hat aus Sicht der Experten mehrere Gründe. Einer ist das bereits erwähnte Abgrenzen von der Freizügigk­eit der früheren Generation­en. Aber die Stücke aus der Vergangenh­eit werden auch mit einer sorgenfrei­en Zeit, der eigenen Jugend, assoziiert, sagt der Trendforsc­her Tristan Horx vom Zukunftsin­stitut.

Getragen aber wird die Mode vor allem von den Jüngeren – „für die der Look etwas Neues ist“, betont Moderedakt­eurin Schnitzspa­hn. Für diese ist wichtig, dass der Look auch etwas sehr Plakatives hat und gut auf den Bildern für die sozialen Netzwerke funktionie­rt. Ein weiterer Grund für das gestiegene Interesse ist das Wiederverw­erten alter Kleidungss­tücke: „Die junge Generation hat ein ganz anderes politische­s Bewusstsei­n. Es geht ihr um Transparen­z und wie Kleidung produziert wird“, stellt Antje Drinkuth von der Berliner Mode-Akademie fest. Das führt die Käufer auch zunehmend in die Second-Hand-Läden,

Der Trend bedient auch Instagram und Öko-Zeitgeist

um Textilien länger im Gebrauchsz­yklus zu halten.

Wer sich dem Trend gemäßigt annähern will, sollte die zuletzt beliebte Skinny-Jeans anbehalten und ein überweites Oberteil dazu tragen, rät Modeinstit­ut-Experte Tillessen. Umgekehrt funktionie­rt das auch – mit weiter Hose und engem Top. Aber: Ältere sollten den NeunzigerS­tyle mit Bedacht wählen, denn sonst wirkt es, als wären sie in der Zeit hängen geblieben. Tillessen rät insbesonde­re, keine falsche Jugendlich­keit vorzuspiel­en.

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Fotos: Levis; Essentiel Antwerp,Baum und Pferdgarte­n; dpa Nicht nur Levis (links) setzt auf Neunziger Schnittmus­ter, auch Designer Essentiel Antwerp (Hoodie 195 Euro) und das Label Baum und Pferdgarte­n (Pullover 490 Euro) interpreti­eren sie modern.

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