Sexy ist out, weit ist in
Klobige Sportschuhe, überweite Kapuzenpullover und beißende Neonfarben. Was steckt hinter dem Fashion–Comeback der Neunziger?
In den Neunzigern wurde modisch rebelliert. Jeans waren zerrissen, die Hosen weit und tief sitzend. Harte Kontraste wie das Schwarz-weißMuster oder die Kombination mehrerer knalliger Farben zogen die Blicke der Betrachter an. Das alles schien überwunden – und ist nun doch zurück. Warum? Und wie? „Das Comeback der Neunziger definiert sich über eine radikale Veränderung der Silhouette – von ganz eng zu ganz weit“, erklärt der Experte Carl Tillessen vom Deutschen Modeinstitut.
Es geht der heutigen Jugend in erster Linie um das Verhältnis zum Körper, das ein anderes ist als das der vorherigen Generationen. „Man hat versucht, sich von der Freizügigkeit und Übersexualisierung der Erwachsenen abzugrenzen“, sagte Modeexperte Tillessen. Dafür eignen sich viele Kleidungsstücke der neunziger Jahre gut. Denn Pullover, Shirts und Hosen waren fast übergroß. Und man mag sich nur an die sogenannten Mom-Jeans erinnern, deren Bund bis mindestens zum Bauchnabel reichte.
Das Ziel ist zudem ganz bewusst der schlechte Geschmack, „Bad Taste“also. „Junge Leute besorgen sich auf dem Flohmarkt gezielt Sachen, die einen geschmacklichen Tabubruch bedeuten“, erklärt Tillessen. Die Branche springt auf und produziert wieder viele Kleidungsstücke im Neunziger-Stil – etwa Sneaker mit markanten dicken Sohlen. „Manche Schuhe sehen aus wie Traktorreifen“, sagt Antje Drinkuth von der Berliner Akademie Mode & Design. Doch das vermeintliche Stil-Comeback ist keine reine Kopie der Neunziger-Mode, man verändert den Stil durchaus. Auch provokante und für heute ungewöhnliche Materialien werden wieder gerne genutzt: „Für Frauen gibt es etwa lange Trenchcoats aus Leder oder Lack“, sagt Drinkuth.
„Bei Frauen wird heute der Hoodie etwa zum Plisseerock kombiniert“, erklärt die Expertin Charlotte Schnitzspahn vom Fachmagazin Textilwirtschaft. „Männer können Hoodie und Chunky Sneaker zur Anzugshose tragen.“Vor allem das offensive Marketing der Neunziger sei auf den Klamotten nicht mehr so stark präsent. „Die Logos sind mittlerweile zunehmend subtiler und werden zum Beispiel nicht nur plakativ auf der Brust, sondern auch auf Ärmeln aufgedruckt oder in Grafiken verarbeitet“, sagt Modeexpertin Schnitzspahn. Dazu hat sich die Farbpalette erweitert. „Zu den knalligen Farben von damals kommen heute Pastell- und Sandtöne.“
Der Rückgriff auf die Elemente der Neunziger-Mode hat aus Sicht der Experten mehrere Gründe. Einer ist das bereits erwähnte Abgrenzen von der Freizügigkeit der früheren Generationen. Aber die Stücke aus der Vergangenheit werden auch mit einer sorgenfreien Zeit, der eigenen Jugend, assoziiert, sagt der Trendforscher Tristan Horx vom Zukunftsinstitut.
Getragen aber wird die Mode vor allem von den Jüngeren – „für die der Look etwas Neues ist“, betont Moderedakteurin Schnitzspahn. Für diese ist wichtig, dass der Look auch etwas sehr Plakatives hat und gut auf den Bildern für die sozialen Netzwerke funktioniert. Ein weiterer Grund für das gestiegene Interesse ist das Wiederverwerten alter Kleidungsstücke: „Die junge Generation hat ein ganz anderes politisches Bewusstsein. Es geht ihr um Transparenz und wie Kleidung produziert wird“, stellt Antje Drinkuth von der Berliner Mode-Akademie fest. Das führt die Käufer auch zunehmend in die Second-Hand-Läden,
Der Trend bedient auch Instagram und Öko-Zeitgeist
um Textilien länger im Gebrauchszyklus zu halten.
Wer sich dem Trend gemäßigt annähern will, sollte die zuletzt beliebte Skinny-Jeans anbehalten und ein überweites Oberteil dazu tragen, rät Modeinstitut-Experte Tillessen. Umgekehrt funktioniert das auch – mit weiter Hose und engem Top. Aber: Ältere sollten den NeunzigerStyle mit Bedacht wählen, denn sonst wirkt es, als wären sie in der Zeit hängen geblieben. Tillessen rät insbesondere, keine falsche Jugendlichkeit vorzuspielen.