Vom Mauerfall zur AfD
Was gestern gefeiert wurde, wirkt heute längst brüchig: Die Ursachen einer inneren Spaltung, die vor allem den Osten betrifft – aber auch im Westen durchschlägt
Es ist eine persönliche Geschichte und eine ostdeutsche – und sie dringt auf den Grund eines gesamtdeutschen Problems. Sie zeigt, warum es eben nicht so einfach aufgeht, wenn es nach den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen hieß, die Rekorde der AfD seien auf die Wut der Abgehängten zurückführen. Warum aber ist diese Partei 30 Jahre nach dem Mauerfall gerade im Osten so stark? Was lässt sie auch im Westen wachsen? Es geht um innere Spaltung, auf die das vereinte Deutschland zugeht. Und dabei kehrt doch eigentlich nur ein 51-Jähriger in seine alte Heimat zurück: einen in den Sechzigern hochgezogenen Ortsteil von Rostock.
„Lütten Klein“heißt das daraus entstandene und nach dem Ort benannte Buch. Und es erinnert mit seinem Ansatz an ein vor zehn Jahren in Frankreich erschienenes Werk, „Rückkehr nach Reims“, mit dem der Autor Didier Eribon einen internationalen Bestseller landete. In dessen Heimat mit klassisch starker Arbeiterschaft und vielen linken Stammwählern war eine Hochburg der Rechtspopulisten geworden. Sein Befund: Die Linken sollten den Menschen damals ihren Anteil auf Aufschwung sichern, mit dem Eigenheim in Richtung Mittelschicht – die Rechten nun sollen sie vor dem Abstieg ins Prekariat mit zuwandernden Konkurrenten retten, sollen ihnen Haus und Nachbarschaft bewahren. Das verfing auch außerhalb Frankreichs als Analyse.
Nun aber liefert die eigene deutsche Erkundung ein viel spezifischeres Bild. Auf ein zentrales Zitat gebracht: „Im gegenwärtigen politischen Diskurs haben die rechten Populisten (...) ein Angebot in der Tasche, das kaum zu schlagen zu sein scheint, weil es die Menschen von Zumutungen entlastet. Sie sagen: ‚Die Welt muss verändert werden, um sich an dich anzupassen!‘ Die Liberalen, egal ob Marktliberale oder aufgeklärte Kosmopoliten, haben hingegen eine andere Botschaft: ‚Du musst dich ändern, um dich an eine sich wandelnde Welt anzupassen!‘ (...) Das kann den Aufruf enthalten, sich für den Markt zu optimieren, aber auch die Aufforderung, traditionelle Werte abzustreifen und sich auf eine diverser werdende Kultur einzulassen. In einer Teilgesellschaft wie der ostdeutschen, die in den letzten 30 Jahren einen regelrechten Transformationsgalopp durchgemacht hat, trifft diese Botschaft auf Erschöpfung, auf eine Haltung des ‚Nicht schon wieder‘.“
Doch der Reihe nach. Zunächst die persönliche Geschichte: Der Autor Steffen Mau ist Professor für Soziologie an der Humboldt-Universität in Berlin. Den Mauerfall hatte er noch im Dienst der Nationalen Volksarmee erlebt. Aufgewachsen war Mau in „Lütten Klein“, später abfällig als Plattenbausiedlung bezeichnet, damals aber eine moderne, gefragte Form des Wohnens. Dorthin kehrt er nun zurück, spricht mit Menschen, vergleicht damals und heute – und trifft zunächst auf den Widerspruch: Selbst wenn es nicht die von Kohl damals versprochenen „blühenden Landschaften“geworden sind, gehe es den Menschen heute hier im Durchschnitt besser denn je – und doch ist die Stimmung auf dem Tiefststand.
Mau beginnt einen Gang durch die ostdeutsche Geschichte, der im ersten Teil des Buches das „Leben in der DDR“erkundet, im zweiten dann die „Transformationen“. Wesentlich am Osten vor dem Mauerfall: Man lebte in einer homogenen und durchaus auf Patriotismus wert legenden Gesellschaft – die allerdings ihre Aufstiegsversprechen an die Bevölkerung nicht mehr einhalten konnte. Umso wuchtiger wirkte das, was dann als die erste Transformation erlebt wurde, aufs Selbstbewusstsein. Denn was die ehemaligen DDR-Bürger in der deutschen Einheit nach dem Mauerfall erlebten, war in vielen Bereichen wieder nicht der erhoffte Aufstieg – zudem noch durch den vorherrschenden Westblick die Entwertung ihrer Lebensund Arbeitsleistung.
Und als Anfang der 90er in den Plattenbauten auch Flüchtlinge und Asylbewerber untergebracht wurden, entlud sich zwei Kilometer von Lütten Klein entfernt, in RostockLichtenhagen, die Wut, der Hass in Anschlägen. Die radikale Spitze eines verbreiteten Gefühls, in dieser neuen, transformierten Gesellschaft kein Faktor zu sein, aber funktionieren zu müssen und dabei die Beheimatung in einer homogenen, patriotisch vereinten Gemeinschaft verloren zu haben. Um die „Integration“der Lebensläufe und der Menschen aus der ehemaligen DDR kümmerte sich keiner…
Und das, so Steffen Mau, wiederholt sich heute nun in einer weiteren Transformation. In den Verschiebungen der liberalisierten, digitalisierten, globalisierten Gesellschaft erneuert sich das „Gefühl der kulturellen Entwertung“: „Nimmt man den Faden der empfundenen Verluste und biografischen Narben auf, wird verständlich, dass in einem solchen Milieu leicht Wut aufkommt.“Diesmal wird sich sogar um die Notleidenden aus aller Welt mehr gekümmert als um die eigenen Bedürftigen, die Integration der eigenen Vergangenheit. Vor allem im Osten, der keine große demokratische Tradition habe, wachse so die Ablehnung gegen ein System, das sich eben nicht um die Belange kümmere. Im Westen sorgt die erste derartige Transformation auch für einen Wutschub nach rechts – und langst nicht nur bei den wirtschaftlich Abgehängten. Denn das Gefühl der „kulturellen Entwertung“existiert auch hier. Das ist das Kapital populistischer Bewegungen.
Mau: „Wie bei allen sozialen Bewegungen lässt sich die Schwungkraft des Unbehagens noch verstärken…“Und weiter: „Die Gemeinschaftsund Sicherheitsverluste werden auch – aber nicht nur – durch die Hinwendung zu ethnisch bestimmten Kategorien der Zugehörigkeit und durch recht rigide Ordnungsvorstellungen kompensiert…“Schließlich: „Auch noch dreißig Jahre nach der Wende fehlt es der ostdeutschen Gesellschaft letztlich an einem robusten sozialmoralischen und sozialstrukturellen Unterbau, der Toleranz und ein empathisches Demokratieverständnis tragen könnte.“Gleichzeitig droht in Teilen des Westens gerade das abhandenzukommen. Der Soziologe endet: „Naiv sind deshalb diejenigen, die meinen, dies alles ließe sich durch eine innerdeutsche Gesprächstherapie umstandslos heilen… Die Frakturen sitzen tiefer, sie betreffen das, was die Gesellschaft als Ganzes ausmacht.“
Von der „Kulturentwertung“durch Transformationen
» Steffen Mau: Lütten Klein – Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft. Suhrkamp, 284 S., 22 ¤