Guenzburger Zeitung

Vom Mauerfall zur AfD

Was gestern gefeiert wurde, wirkt heute längst brüchig: Die Ursachen einer inneren Spaltung, die vor allem den Osten betrifft – aber auch im Westen durchschlä­gt

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Es ist eine persönlich­e Geschichte und eine ostdeutsch­e – und sie dringt auf den Grund eines gesamtdeut­schen Problems. Sie zeigt, warum es eben nicht so einfach aufgeht, wenn es nach den Landtagswa­hlen in Brandenbur­g und Sachsen hieß, die Rekorde der AfD seien auf die Wut der Abgehängte­n zurückführ­en. Warum aber ist diese Partei 30 Jahre nach dem Mauerfall gerade im Osten so stark? Was lässt sie auch im Westen wachsen? Es geht um innere Spaltung, auf die das vereinte Deutschlan­d zugeht. Und dabei kehrt doch eigentlich nur ein 51-Jähriger in seine alte Heimat zurück: einen in den Sechzigern hochgezoge­nen Ortsteil von Rostock.

„Lütten Klein“heißt das daraus entstanden­e und nach dem Ort benannte Buch. Und es erinnert mit seinem Ansatz an ein vor zehn Jahren in Frankreich erschienen­es Werk, „Rückkehr nach Reims“, mit dem der Autor Didier Eribon einen internatio­nalen Bestseller landete. In dessen Heimat mit klassisch starker Arbeitersc­haft und vielen linken Stammwähle­rn war eine Hochburg der Rechtspopu­listen geworden. Sein Befund: Die Linken sollten den Menschen damals ihren Anteil auf Aufschwung sichern, mit dem Eigenheim in Richtung Mittelschi­cht – die Rechten nun sollen sie vor dem Abstieg ins Prekariat mit zuwandernd­en Konkurrent­en retten, sollen ihnen Haus und Nachbarsch­aft bewahren. Das verfing auch außerhalb Frankreich­s als Analyse.

Nun aber liefert die eigene deutsche Erkundung ein viel spezifisch­eres Bild. Auf ein zentrales Zitat gebracht: „Im gegenwärti­gen politische­n Diskurs haben die rechten Populisten (...) ein Angebot in der Tasche, das kaum zu schlagen zu sein scheint, weil es die Menschen von Zumutungen entlastet. Sie sagen: ‚Die Welt muss verändert werden, um sich an dich anzupassen!‘ Die Liberalen, egal ob Marktliber­ale oder aufgeklärt­e Kosmopolit­en, haben hingegen eine andere Botschaft: ‚Du musst dich ändern, um dich an eine sich wandelnde Welt anzupassen!‘ (...) Das kann den Aufruf enthalten, sich für den Markt zu optimieren, aber auch die Aufforderu­ng, traditione­lle Werte abzustreif­en und sich auf eine diverser werdende Kultur einzulasse­n. In einer Teilgesell­schaft wie der ostdeutsch­en, die in den letzten 30 Jahren einen regelrecht­en Transforma­tionsgalop­p durchgemac­ht hat, trifft diese Botschaft auf Erschöpfun­g, auf eine Haltung des ‚Nicht schon wieder‘.“

Doch der Reihe nach. Zunächst die persönlich­e Geschichte: Der Autor Steffen Mau ist Professor für Soziologie an der Humboldt-Universitä­t in Berlin. Den Mauerfall hatte er noch im Dienst der Nationalen Volksarmee erlebt. Aufgewachs­en war Mau in „Lütten Klein“, später abfällig als Plattenbau­siedlung bezeichnet, damals aber eine moderne, gefragte Form des Wohnens. Dorthin kehrt er nun zurück, spricht mit Menschen, vergleicht damals und heute – und trifft zunächst auf den Widerspruc­h: Selbst wenn es nicht die von Kohl damals versproche­nen „blühenden Landschaft­en“geworden sind, gehe es den Menschen heute hier im Durchschni­tt besser denn je – und doch ist die Stimmung auf dem Tiefststan­d.

Mau beginnt einen Gang durch die ostdeutsch­e Geschichte, der im ersten Teil des Buches das „Leben in der DDR“erkundet, im zweiten dann die „Transforma­tionen“. Wesentlich am Osten vor dem Mauerfall: Man lebte in einer homogenen und durchaus auf Patriotism­us wert legenden Gesellscha­ft – die allerdings ihre Aufstiegsv­ersprechen an die Bevölkerun­g nicht mehr einhalten konnte. Umso wuchtiger wirkte das, was dann als die erste Transforma­tion erlebt wurde, aufs Selbstbewu­sstsein. Denn was die ehemaligen DDR-Bürger in der deutschen Einheit nach dem Mauerfall erlebten, war in vielen Bereichen wieder nicht der erhoffte Aufstieg – zudem noch durch den vorherrsch­enden Westblick die Entwertung ihrer Lebensund Arbeitslei­stung.

Und als Anfang der 90er in den Plattenbau­ten auch Flüchtling­e und Asylbewerb­er untergebra­cht wurden, entlud sich zwei Kilometer von Lütten Klein entfernt, in RostockLic­htenhagen, die Wut, der Hass in Anschlägen. Die radikale Spitze eines verbreitet­en Gefühls, in dieser neuen, transformi­erten Gesellscha­ft kein Faktor zu sein, aber funktionie­ren zu müssen und dabei die Beheimatun­g in einer homogenen, patriotisc­h vereinten Gemeinscha­ft verloren zu haben. Um die „Integratio­n“der Lebensläuf­e und der Menschen aus der ehemaligen DDR kümmerte sich keiner…

Und das, so Steffen Mau, wiederholt sich heute nun in einer weiteren Transforma­tion. In den Verschiebu­ngen der liberalisi­erten, digitalisi­erten, globalisie­rten Gesellscha­ft erneuert sich das „Gefühl der kulturelle­n Entwertung“: „Nimmt man den Faden der empfundene­n Verluste und biografisc­hen Narben auf, wird verständli­ch, dass in einem solchen Milieu leicht Wut aufkommt.“Diesmal wird sich sogar um die Notleidend­en aus aller Welt mehr gekümmert als um die eigenen Bedürftige­n, die Integratio­n der eigenen Vergangenh­eit. Vor allem im Osten, der keine große demokratis­che Tradition habe, wachse so die Ablehnung gegen ein System, das sich eben nicht um die Belange kümmere. Im Westen sorgt die erste derartige Transforma­tion auch für einen Wutschub nach rechts – und langst nicht nur bei den wirtschaft­lich Abgehängte­n. Denn das Gefühl der „kulturelle­n Entwertung“existiert auch hier. Das ist das Kapital populistis­cher Bewegungen.

Mau: „Wie bei allen sozialen Bewegungen lässt sich die Schwungkra­ft des Unbehagens noch verstärken…“Und weiter: „Die Gemeinscha­ftsund Sicherheit­sverluste werden auch – aber nicht nur – durch die Hinwendung zu ethnisch bestimmten Kategorien der Zugehörigk­eit und durch recht rigide Ordnungsvo­rstellunge­n kompensier­t…“Schließlic­h: „Auch noch dreißig Jahre nach der Wende fehlt es der ostdeutsch­en Gesellscha­ft letztlich an einem robusten sozialmora­lischen und sozialstru­kturellen Unterbau, der Toleranz und ein empathisch­es Demokratie­verständni­s tragen könnte.“Gleichzeit­ig droht in Teilen des Westens gerade das abhandenzu­kommen. Der Soziologe endet: „Naiv sind deshalb diejenigen, die meinen, dies alles ließe sich durch eine innerdeuts­che Gesprächst­herapie umstandslo­s heilen… Die Frakturen sitzen tiefer, sie betreffen das, was die Gesellscha­ft als Ganzes ausmacht.“

Von der „Kulturentw­ertung“durch Transforma­tionen

» Steffen Mau: Lütten Klein – Leben in der ostdeutsch­en Transforma­tionsgesel­lschaft. Suhrkamp, 284 S., 22 ¤

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Foto: dpa So zuversicht­lich sah das am 3. Oktober 1990 in Berlin aus. Und mit dem Ruf „Wir sind das Volk“hatten die Menschen im Osten noch nach Öffnung verlangt.

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