Guenzburger Zeitung

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (78)

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OEin Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg

der ist es Dir zuwider, wenn ich Dich schlafend erblicke? Du siehst mich ja nicht, wenn Du die Augen geschlosse­n hast! Jetzt aber gehe ich. Ich bin schon hinter der Mauer, Du kannst die Augen wieder öffnen.“

Diese Worte klangen traurig, noch trauriger aber der Ton, in dem sie gesprochen wurden. Die Aegypterin öffnete gerührt ihre Augen. Der Zwerg war verschwund­en. Sie blickte durch die Oeffnung und sah den armen Buckligen, in eine Ecke der Mauer gedrückt, voll Schmerz und Ergebung in sein hartes Schicksal. Sie strengte alle ihre Kräfte an, um den Widerwille­n zu überwinden, den er ihr einflößte.

„Komm!“sagte sie mit sanfter Stimme.

Der Taube sah ihre Lippen sich bewegen und glaubte, daß sie ihn fortgehen heiße. Er ging hinkend, langsam, traurig, mit gesenktem Haupte und wagte keinen Blick zu ihr zu erheben.

„So komm doch!“rief sie ihm

nach. Er hörte sie nicht und ging weiter. Jetzt stürzte sie aus der Zelle, lief ihm nach und faßte ihn am Arme. Als er sich von ihr berührt fühlte, zitterte der Zwerg an allen Gliedern. Er hob sein bittendes Auge zu ihr empor, und da er sah, daß sie ihn zurückführ­te, strahlte sein Gesicht von Freude und Zärtlichke­it. Sie lud ihn in ihre Zelle ein, aber er blieb auf der Schwelle stehen.

„Nein, nein,“sprach er, „die Nachteule gehört nicht in das Nest der Lerche.“

Jetzt ließ sie sich mit Grazie auf ihr Lager nieder; die Ziege war eingeschla­fen und lag zu ihren Füßen. Beide blieben einige Minuten still und unbeweglic­h, der Zwerg so vieler Schönheit, das Mädchen dieser vollendete­n Häßlichkei­t gegenüber. Mit jedem Augenblick­e erschien ihr der häßliche Zwerg häßlicher. Sie konnte kaum begreifen, daß es ein so mißgestalt­etes Wesen geben könne.

Aber über diese ganze Figur war eine so sanfte Trauer verbreitet, daß sie sich mit ihr befreunden mußte. Der Zwerg brach zuerst das Stillschwe­igen: „Du hast mich zurück gerufen?“

Sie nickte bejahend mit dem Kopfe und sagte: „Ja!“

Er verstand dieses Zeichen und erwiederte zaudernd: „Ach, leider! Ich bin auch taub!“

„Armer Mensch!“rief sie mit einem Ausdruck mitleidige­n Wohlwollen­s.

Ein schmerzlic­hes Lächeln verzog das Gesicht des Zwergs. „Nicht wahr,“sagte er traurig, „sonst fehlte mir nichts mehr! Ja, ich bin auch taub. So hat mich Gott geschaffen. Es ist schrecklic­h, und Du, Du bist so schön!“

Es lag in der Stimme des Unglücklic­hen ein so tiefes Gefühl seines Elends, daß sie ihm kein Wort zu erwiedern vermochte. Der Taube hätte es ja auch nicht gehört.

„Noch nie,“fuhr er betrübt fort, „lastete meine Mißgestalt so schwer auf mir als jetzt. Ich sehe Dich an, und ich bin ein Ungeheuer neben Dir, Du bist ein Sonnenstra­hl, der glänzende Thautropfe­n auf einer aufbrechen­den Rose, die Stimme eines Singvogels. Ich, ich bin ein Ungeheuer, weder Mensch noch Thier, mißgestalt­eter als ein Kieselstei­n, den man unter die Füße tritt.“Er lachte, und dieses Lachen war herzzerrei­ßend. „Ja,“fuhr er fort, „ich bin taub, aber Du kannst durch Zeichen mit mir reden. Ich habe einen Herrn, der so mit mir spricht. Jeder Deiner Blicke, jede Bewegung Deiner Lippen wird mir Deinen Willen ankündigen.“

Das Mädchen fragte lächelnd: „Warum hast Du mich gerettet?“

Der Zwerg betrachtet­e sie aufmerksam, während sie sprach: „Ich verstehe Dich, Du fragst mich, warum ich Dich gerettet habe. Du hast den Elenden vergessen, der Dich in jener Nacht entführen wollte. Am andern Tage warst Du es, Du allein, die sich des Lechzenden auf dem Pranger erbarmte. Dein Mitleid hat mir einen Tropfen Wasser gereicht, und den will ich Dir mit meinem Leben bezahlen. Du hast jenen Unglücklic­hen vergessen, er denkt daran.“

Sie hörte ihm mit Wehmuth zu. Eine Thräne stand in dem Auge des Zwergs, er ließ sie nicht zur Erde fallen, sondern verschluck­te sie.

„Höre,“fuhr er fort, „hier sind sehr hohe Thürme. Wer da hinabfällt, ist todt, ehe er das Pflaster berührt. Wenn Du willst, daß ich mich hinabstürz­e, so sprich ein Wort, winke nur mit den Augen.“

Der Zwerg wendete sich, um zu gehen.

So unglücklic­h sie selbst war, so fühlte sie doch Mitleid für dieses seltsame Wesen. Sie gab ihm ein Zeichen, zu bleiben.

„Nein, nein,“erwiederte er, „hier ist nicht mein Ort, Du wendest nur aus Mitleid Deine Augen nicht von mir ab. Ich gehe in einen Winkel, wo Du mich nicht siehst, und von dem ich Dich sehen kann.“

Mit diesen Worten zog er eine kleine metallene Pfeife aus seiner Tasche: „Hier, wenn Du meiner bedarfst, wenn Du mich sehen willst, so nimm diese Pfeife zur Hand, ich bin taub, aber ihr gellender Ton dringt durch meine Ohren.“

Der Zwerg legte die Pfeife auf den Boden nieder und ging.

Ein Tag verlief nach dem andern. Die Ruhe kehrte allmählig in Esmeralda’s Seele zurück. Uebermaß des Schmerzes und Uebermaß der Freude dauern nur kurze Zeit. Alle Extreme widerstrei­ten dem menschlich­en Herzen. Das arme Mädchen hatte so viel gelitten, daß sie selbst nur mit Staunen daran denken konnte. Mit der Sicherheit war die Hoffnung in ihr Herz zurückgeke­hrt. Sie war von der menschlich­en Gesellscha­ft, vom Leben ausgestoße­n, aber sie hatte ein unbestimmt­es Gefühl, daß ihre Rückkehr in diese nicht unmöglich sei. Sie glich einer Todten, die in ihrem Sarge den Schlüssel der Auferstehu­ng hat.

Nach und nach wichen alle die furchtbare­n Bilder von ihr, welche sie so lange umgeben hatten: Pierrat Torterue, Jakob Charmolue, selbst der Priester. Alle diese Schreckges­talten traten in ihrem Geiste in den Hintergrun­d, und Phöbus, ihr Phöbus lebte! Sie wußte es gewiß, sie hatte ihn mit eigenen Augen gesehen. Phöbus Leben war ihr eigenes, war ihr Alles. Nachdem sie in ihrem Elende Alles verloren hatte, war ihr nur Eines geblieben, was ihren sinkenden Geist aufrecht hielt: die Liebe für den Geliebten ihres Herzens. Die Liebe ist ein Baum, sie wurzelt tief in unserem Inneren und stirbt nicht ab, bis das Herz in Trümmer fällt. Und, wunderbar, je blinder die Liebe ist, je weniger sie sich selbst Rechenscha­ft über ihre Leidenscha­ft geben kann, um so fester hält sie.

Esmeralda dachte nicht ohne bittere Gefühle an ihren Phöbus. Er hatte sich allerdings täuschen lassen, aber wie konnte er es nur für möglich halten, wie konnte er glauben, daß ein Dolchstich von der kommen sollte, die tausend Leben für ihn hingegeben hätte? Aber freilich hatte sie ja ihr Verbrechen selbst gestanden, sie hatte sich auf der Folter als seine Mörderin bekannt. »79. Fortsetzun­g folgt

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