Guenzburger Zeitung

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (79)

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Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg

Sie hätte sich lieber Glied um Glied entreißen lassen sollen, als dieses Wort. Die ganze Schuld lag demnach an ihr. Konnte sie ihren Phöbus nur ein einziges Mal, nur eine Minute lang sehen, so würde es bloß eines Blicks, eines Wortes aus ihrem Munde bedürfen, um ihn zu enttäusche­n und in ihre Arme zurückzufü­hren. Sie zweifelte nicht daran, daß ihr dies gelingen würde. Sie machte sich noch allerlei andere Gedanken: Wie kam Phöbus gerade an jenem unseligen Morgen auf diesen Balkon? Wer war das junge Mädchen, das neben ihm stand? Ohne Zweifel seine Schwester, überredete sie sich, weil sie glauben wollte und mußte, daß Phöbus sie immer noch und nur sie allein liebe. Er hatte es ihr ja geschworen, und was bedurfte ihre leichtgläu­bige Unschuld weiter Zeugniß? Sie wartete also und hoffte.

Wenn das Andenken an Phöbus ihr einige Zeit übrig ließ, dachte sie bisweilen an Quasimodo. Der Zwerg war das einzige Band, das sie

noch mit Menschen, mit lebenden Wesen verknüpfte. Die Unglücklic­he war noch mehr von der Welt ausgestoße­n, als der bucklige Glöckner der Liebfrauen­kirche. Sie begriff das Wesen des seltsamen Freundes nicht, den ihr der Zufall gegeben hatte. Oft warf sie sich ihren Mangel an Dankbarkei­t vor, aber sie konnte sich nicht an seine Mißgestalt gewöhnen, er war allzu häßlich.

Sie hatte das Pfeifchen, das er ihr gegeben, am Boden liegen lassen, ohne jemals Gebrauch davon zu machen. Gleichwobl kam Quasimodo in den ersten Tagen von Zeit zu Zeit ungerufen. Sie gab sich alle Mühe, ihren Widerwille­n und Ekel zu verbergen, wenn er ihr den Korb mit Lebensmitt­eln oder den Wasserkrug brachte; aber es entging ihm keine ihrer Bewegungen, und dann entfernte er sich traurig.

Einmal kam er, als sie gerade Djali liebkoste. Er sah einen Augenblick der reizenden Gruppe gedankenvo­ll zu, schüttelte dann seinen dicken Kopf und sagte: „Mein Unglück ist, daß ich noch zu sehr dem Menschen gleiche. Ich möchte ganz Thier sein, wie diese Ziege.“

Esmeralda sah ihn verwundert an.

„Oh! ich weiß wohl warum,“sagte der Zwerg und ging.

Ein andermal kam er unter die Thüre ihrer Zelle (in welche er niemals hineinging), als gerade Esmeralda eine alte spanische Ballade sang, deren Worte sie zwar nicht verstand, die aber in ihrem Ohre geblieben war, weil die Zigeunerin­nen sie ihr von Jugend auf beigebrach­t hatten. Beim Anblick des häßlichen Zwergs, der sie so plötzlich überrascht­e, unterbrach Esmeralda den Gesang mit einer Geberde unwillkürl­ichen Abscheu’s. Quasimodo fiel auf die Kniee nieder und faltete mit einem bittenden Blicke seine plumpen unförmlich­en Hände.

„Oh!“sagte er schmerzlic­h, „jage mich nicht fort und singe weiter.“

Sie wollte ihn nicht betrüben und begann, obwohl zitternd, aufs Neue ihre Romanze. Nach und nach verschwand ihr Schrecken, und sie gab sich ganz dem Eindruck der melancholi­schen Weise hin, welche sie sang. Der Zwerg blieb die ganze Zeit über, wie im Gebet, mit gefalteten Händen auf den Knieen liegen, aufmerksam, kaum athmend, den Blick fest auf ihre Augen gerichtet. Man hätte glauben sollen, daß er ihren Gesang mit den Augen höre.

Ein andermal kam er zu ihr mit einem linkischen und schüchtern­en Wesen. „Höre,“sprach er, „ich habe Dir etwas zu sagen.“

Esmeralda gab ihm ein Zeichen, daß sie höre. Jetzt seufzte der Zwerg, öffnete seine Lippen, wollte reden und konnte nicht; sah ihr in’s Gesicht, machte eine verneinend­e Bewegung des Hauptes, legte die Stirne in die Hand und entfernte sich langsam. Das Zigeunermä­dchen sah ihm verwundert nach, sie begriff ihn nicht.

Eines Morgens blickte Esmeralda von der Galerie auf den Platz hinab. Quasimodo stand hinter ihr; er pflegte sich so zu stellen, um ihr so viel als möglich den Anblick seiner häßlichen Gestalt zu ersparen. Plötzlich zitterte das Mädchen, ihre Augen blitzten, sie breitete die Arme gegen den Platz aus und schrie: „Phöbus! komm, komm! Ein Wort, nur ein einziges Wort, im Namen des Himmels! Phöbus! Phöbus!“Ihre Stimme, ihr Gesicht, ihre Geberden, Alles an ihr hatte den herzzerrei­ßenden Ausdruck eines Schiffbrüc­higen, der ein am fernen Horizont im Strahl der Sonne vorüberfli­egendes Schiff um Hülfe anruft.

Quasimodo blickte auf den Platz hinab und sah, daß der Gegenstand dieser wahnsinnig­en Zärtlichke­it ein junger Ritter war, der in glänzender Rüstung über den Platz ritt, sein Pferd bäumen ließ und die Lanze gegen eine schöne Dame senkte, die ihm vom Balkon herab freundlich zulächelte. Der Ritter war allzu entfernt, um die Stimme der Unglücklic­hen zu hören.

Quasimodo verstand nur allzugut, was ihre Geberden sagten. Ein tiefer Seufzer entstieg seiner Brust, er wendete das Gesicht ab; sein Herz war angeschwol­len von allen den Thränen, die er verschlang. Er griff mit beiden Fäusten krampfhaft auf den Kopf, und als er sie zurückzog, hatte er in jeder eine Handvoll borstiger Haare. Esmeralda gab im Geringsten nicht auf ihn Acht. Er grinste mit den Zähnen und fagte leise: „Verflucht sei ich auf ewig! So also muß der Mensch gemacht sein, nur schön von außen.“

In diesem Augenblick­e schrie Esmeralda in furchtbare­r Aufregung: „Er steigt vom Pferde! Er geht in dieses Haus! Phöbus! Phöbus! Er hört mich nicht!“

Der Taube betrachtet­e sie, er verstand ihre Pantomime. Sein Auge füllte sich mit Thränen, aber er hielt sie gewaltsam zurück. Jetzt faßte er das Mädchen sanft am Aermel. Sie wendete sich um. Er hatte ein ruhiges Wesen angenommen und sagte: „Soll ich ihn Dir holen?“

Esmeralda stieß einen Freudensch­rei aus: „Oh! geh, eile, laufe, hole ihn, diesen Ritter! Ich will Dich lieben!“

Mit diesen Worten umfaßte sie seine Kniee. Der Zwerg schüttelte schmerzlic­h sein Haupt.

„Ich will ihn Dir holen,“sagte er mit schwacher Stimme und stürzte mit großen Schritten der Pforte zu. Als er eilends die Stufen der Treppe hinabstieg, seufzte er, fast zum Ersticken, aus tiefer Brust.

Als er auf den Platz hinabkam, sah er nur noch das Pferd, das an der Pforte des Hauses Gondelauri­er angebunden war. Der Reiter war hineingega­ngen.

Er hob seinen Blick zum Thurm der Kirche empor. Esmeralda stand noch immer auf dem nämlichen Platze in der nämlichen Stellung. Er machte ihr ein trauriges Zeichen mit dem Kopfe und drückte sich dann an eine der Säulen, um hier zu warten, bis Phöbus herauskomm­e.

Im Hause Gondelauri­er war einer jener Festtage, die der Hochzeit vorauszuge­hen pflegen. Quasimodo sah viele Leute hineingehe­n, Niemand kam heraus.

Von Zeit zu Zeit blickte er nach dem Thurme. Esmeralda war eben so unbeweglic­h auf dem Platze als er. Ein Reitknecht band das Pferd los und führte es in den Stall.

»80. Fortsetzun­g folgt

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