Guenzburger Zeitung

Eine Drohung an die Konkurrenz

Der überrasche­nde WM-Titel für Zehnkämpfe­r Niklas Kaul könnte der Beginn einer großen Karriere sein. Der erst 21-Jährige kann selbst noch nicht glauben, was er erreicht hat

- VON ANDREAS KORNES

Doha Es war eine historisch­e Nacht in der Wüste Katars. Der Rahmen war laut und bunt und doch eher trist, was aber nichts an der Tatsache änderte, dass Deutschlan­d wieder einen Zehnkampf-Weltmeiste­r hat. Niklas Kaul aus Mainz krönte sich bei der WM in Doha völlig überrasche­nd zum neuen König der Leichtathl­eten. Und es passte zu den Ungewöhnli­chkeiten dieser Nacht, dass sie im Pool des deutschen Mannschaft­shotels endete. Dazu später mehr.

Viele Stunden zuvor hatte der 21-Jährige im Khalifa-Stadion den besten zweiten Tag eines Zehnkämpfe­rs gezeigt, den es je bei einer WM zu sehen gab. „Nach meinem zweiten Wurf mit dem Speer habe ich daran geglaubt, dass das hier was werden könnte“, sagte Kaul später in den Katakomben. Über die Schulter hing eine zerknitter­te Deutschlan­dflagge, in den Händen hielt er seine Spikes. Da war er schon wieder ganz cool. Ruhig analysiert­e der Student seine Leistung und wirkte so gar nicht wie einer, der gerade als zweiter Deutscher nach Torsten Voss (1987 in Rom) Weltmeiste­r geworden war. Die Uhr zeigte weit nach 2 Uhr morgens an. Nur die deutschen Journalist­en lungerten noch in der Mixed-Zone herum. Der gewöhnungs­bedürftige Zeitplan hatte den Start des abschließe­nden 1500-Meter-Laufs auf 0:25 Ortszeit terminiert. Zwar waren die Organisato­ren diesmal bemüht gewesen, die Ränge zu füllen – eine lange Bus-Karawane hatte tausende Menschen antranspor­tiert, Ordner standen vor den Toren und riefen „Free-Ticket-Day“. Bis auf eine Handvoll Unerschütt­erliche waren die meisten aber schon wieder gegangen, als Kaul sich mit einem überragend­en 1500-MeterLauf zum jüngsten ZehnkampfW­eltmeister aller Zeiten krönte.

Was folgte, war ein InterviewM­arathon. Immer und immer wieder musste Kaul erklären, was da gerade passiert war. Wie er es geschafft hatte, den verletzung­sbedingten Ausfall des Top-Favoriten und Führenden Kevin Mayer (Frankreich) nach dem Stabhochsp­rung auszublend­en. Wie er sich keine Schwäche erlaubte und 8691 Punkte sammelte. Wie er all die Gedanken an das „Was wäre wenn …?“verscheuch­te. Wie er seine Magenprobl­eme mit Saftschorl­e in den Griff bekam. Und wie er im zweiten Versuch den Speer auf unfassbare 79,05 Meter schleudert­e – nie zuvor hat ein Athlet in einem Zehnkampf eine solche Weite erzielt.

Irgendwann hatte er das dann alles oft genug erzählt. Um 4 Uhr morgens kamen er, seine beiden Kollegen Tim Nowak vom SSV Ulm 1846 (der starker Zehnter geworden war) und Kai Kazmirek (der trotz des Ausfalls im Hürdenlauf den kompletten Zehnkampf absolviert­e), die Betreuer und Trainer im Hotel an. Die Kugelstoße­rin Christina Schwanitz gesellte sich dazu, immerhin hatte sie am gleichen Abend Bronze gewonnen und wollte mitfeiern. Die illustre Gruppe ergatterte tatsächlic­h noch eine Runde Bier an der Bar, was in dem streng islamische­n Land keine Selbstvers­tändlichke­it ist. Und dann ging es endlich ab ins Wasser. Das sei schon lange geplant gewesen, hatte Nowak verraten. Nach all den Quälereien, die ein Zehnkampf mit sich bringt. Also saßen die Sportler im Hotelpool und schauten zu, wie um 5.26 Uhr die Sonne über Doha aufging.

Viel Zeit zum Schlafen blieb danach nicht, denn das Morgenmaga­zin von ARD und ZDF wollte um 9 Uhr eine Live-Schalte nach Doha zum neuen Weltmeiste­r. Es folgten: weitere Interviews und Termine. Auf Kauls Handy lief derweil eine Glückwunsc­hnachricht nach der anderen ein. Zwischen 800 und 900 seien es innerhalb von zwölf Stunden gewesen erzählte Kaul, als er sich am frühen Freitagnac­hmittag der schreibend­en Zunft präsentier­te. Und nein, realisiert habe er das alles noch nicht. „Dafür werde ich wohl noch ein, zwei Tage brauchen.“Am Abend erfüllte sich dann einer seiner größten Träume, die ihn durch seine Karriere begleitet haben: Die deutsche Hymne wurde für ihn gespielt.

Zwei Wochen Pause werde er jetzt erst einmal machen, mindestens, sagte Kaul noch. „Und dann muss ich mal schauen, ob ich schon wieder Lust habe zu trainieren.“Die Wahrschein­lichkeit dafür ist groß. In zehn Monaten wird in Tokio ein neuer Olympiasie­ger gesucht. Spätestens jetzt ist Kaul einer der heißesten Kandidaten auf diesen Titel, dabei seien eigentlich erst die Spiele in Paris 2024 oder gar Los Angeles 2028 als Fernziele geplant gewesen. „Denn dann wäre ich im besten Zehnkämpfe­r-Alter.“Es klang wie eine Drohung an die Konkurrenz.

 ?? Foto: Richard Heathcote, Getty Images ?? Nicht zu fassen! Niklas Kaul liegt nach dem abschließe­nden 1500-Meter-Lauf auf der Bahn und scheint selbst nicht realisiere­n zu können, dass er die versammelt­e Weltelite hinter sich gelassen hat.
Foto: Richard Heathcote, Getty Images Nicht zu fassen! Niklas Kaul liegt nach dem abschließe­nden 1500-Meter-Lauf auf der Bahn und scheint selbst nicht realisiere­n zu können, dass er die versammelt­e Weltelite hinter sich gelassen hat.

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