Woher die Wut der Iraker kommt
Debatte Nach Jahren von Krieg, Korruption und Misswirtschaft haben die jungen Menschen genug. Auf den Straßen wächst die Gewalt
Ein Land, das mit seiner Ölförderung jeden Tag fast 300 Millionen Dollar verdient, wo aber trotzdem Millionen Menschen arbeitslos sind und mit häufigen Stromausfällen, schlechter Trinkwasserversorgung und baufälligen Schulen und Krankenhäusern leben müssen: Die Protestwelle im Irak ist der Aufschrei einer jungen Bevölkerung ohne Zukunftsperspektive. Korruption, Misswirtschaft und der Einfluss pro-iranischer Gruppen haben den Zündfunken geliefert. Selbst wenn die Behörden die Unruhen niederschlagen, werden sie die Gründe für das System-Versagen und die Unzufriedenheit in der Bevölkerung nicht beseitigen können.
Bisher sind 104 Menschen in dem Aufstand seit Dienstag getötet worden, mehr als 6000 wurden verletzt. Die Regierung versuchte den Protesten zu begegnen, indem sie vorübergehend Ausgangssperren verhängte und den Zugang zum Internet sperrte. Demonstranten berichteten zudem vom Einsatz scharfer Munition durch die Polizei. Auch einige der Regierungsgegner werden radikaler. Unbekannte Bewaffnete griffen in Bagdad die Büros von drei Fernsehsendern an. Auch Parteibüros wurden attackiert. Ministerpräsident Adel Abdel Mahdi sprach zwar von „legitimen Forderungen“der Demonstranten, legte bisher aber keine Pläne für grundlegende Reformen vor.
Die politische Polarisierung in Bagdad verschärft die Krise. Eine geplante Sondersitzung des Parlaments scheiterte am Samstag an einem Boykottaufruf des schiitischen Geistlichen und Politikers Muktada al-Sadr, der Neuwahlen fordert. Mit seinen riesigen Ölvorräten könnte der Irak ein wohlhabendes Land sein. Der US-Feldzug gegen Bagdad im Jahr 1991, Sanktionen der Vereinten Nationen, das blutige Chaos nach der Entmachtung von Diktator Saddam Hussein durch die USA im Jahr 2003 und die Gewalt des Islamischen Staates (IS) haben die Nation im biblischen Zweistromland jedoch ruiniert.
Seit der Vertreibung des IS aus dem Irak vor zwei Jahren könnte es aufwärts gehen, doch nun werden Politik und Behörden zu Bremsklötzen. Auf dem Korruptionsindex von Transparency International liegt das Land auf Rang 168 – nur zwölf Länder auf der Welt sind noch korrupter. Im irakischen System gehe es mehr um die Verteilung von Pfründen an Anhänger der jeweils herrschenden Parteien als ums Gemeinwohl, kritisiert Bilal Wahab von der Denkfabrik „Washington Institute“in den USA.
Anders als bei früheren Spannungen im Irak spielen konfessionelle Gegensätze zwischen der schiitischen Mehrheit und der sunnitischen Minderheit im Land diesmal keine Rolle: Iraker aller Glaubensrichtungen wollen ein besseres Leben für sich und ihre Kinder. Fast 60 Prozent der rund 40 Millionen Iraker sind jünger als 24 Jahre, jedes Jahr drängen rund 700 000 neue Job-Suchende auf den Arbeitsmarkt. Jeder fünfte junge Iraker ist arbeitslos. Angeheizt werden die Spannungen durch ein neues Nationalbewusstsein, das im Kampf gegen den IS entstand und das sich gegen den großen Einfluss des großen Nachbarn Iran richtet. „Raus mit dem Iran“, lautete nach Medienberichten einer der Schlachtrufe der Demonstranten in Bagdad. Die Macht des schiitischen Iran im Irak stützt sich weniger auf religiöse Gemeinsamkeiten als auf militärische Hilfe im Kampf gegen den IS sowie auf die Finanzierung mächtiger pro-iranischer Milizen und deren politische Vertretungen.
Die Hoffnungslosigkeit treibt immer mehr Iraker aus dem Land. In der benachbarten Türkei bilden sie inzwischen die stärkste Gruppe bei den ausländischen Immobilienkäufern. In Deutschland stellen Iraker nach den Syrern die zweitstärkste Gruppe der Asylbewerber.