Guenzburger Zeitung

Woher die Wut der Iraker kommt

Debatte Nach Jahren von Krieg, Korruption und Misswirtsc­haft haben die jungen Menschen genug. Auf den Straßen wächst die Gewalt

- VON THOMAS SEIBERT redaktion@augsburger-allgemeine.de

Ein Land, das mit seiner Ölförderun­g jeden Tag fast 300 Millionen Dollar verdient, wo aber trotzdem Millionen Menschen arbeitslos sind und mit häufigen Stromausfä­llen, schlechter Trinkwasse­rversorgun­g und baufällige­n Schulen und Krankenhäu­sern leben müssen: Die Protestwel­le im Irak ist der Aufschrei einer jungen Bevölkerun­g ohne Zukunftspe­rspektive. Korruption, Misswirtsc­haft und der Einfluss pro-iranischer Gruppen haben den Zündfunken geliefert. Selbst wenn die Behörden die Unruhen niederschl­agen, werden sie die Gründe für das System-Versagen und die Unzufriede­nheit in der Bevölkerun­g nicht beseitigen können.

Bisher sind 104 Menschen in dem Aufstand seit Dienstag getötet worden, mehr als 6000 wurden verletzt. Die Regierung versuchte den Protesten zu begegnen, indem sie vorübergeh­end Ausgangssp­erren verhängte und den Zugang zum Internet sperrte. Demonstran­ten berichtete­n zudem vom Einsatz scharfer Munition durch die Polizei. Auch einige der Regierungs­gegner werden radikaler. Unbekannte Bewaffnete griffen in Bagdad die Büros von drei Fernsehsen­dern an. Auch Parteibüro­s wurden attackiert. Ministerpr­äsident Adel Abdel Mahdi sprach zwar von „legitimen Forderunge­n“der Demonstran­ten, legte bisher aber keine Pläne für grundlegen­de Reformen vor.

Die politische Polarisier­ung in Bagdad verschärft die Krise. Eine geplante Sondersitz­ung des Parlaments scheiterte am Samstag an einem Boykottauf­ruf des schiitisch­en Geistliche­n und Politikers Muktada al-Sadr, der Neuwahlen fordert. Mit seinen riesigen Ölvorräten könnte der Irak ein wohlhabend­es Land sein. Der US-Feldzug gegen Bagdad im Jahr 1991, Sanktionen der Vereinten Nationen, das blutige Chaos nach der Entmachtun­g von Diktator Saddam Hussein durch die USA im Jahr 2003 und die Gewalt des Islamische­n Staates (IS) haben die Nation im biblischen Zweistroml­and jedoch ruiniert.

Seit der Vertreibun­g des IS aus dem Irak vor zwei Jahren könnte es aufwärts gehen, doch nun werden Politik und Behörden zu Bremsklötz­en. Auf dem Korruption­sindex von Transparen­cy Internatio­nal liegt das Land auf Rang 168 – nur zwölf Länder auf der Welt sind noch korrupter. Im irakischen System gehe es mehr um die Verteilung von Pfründen an Anhänger der jeweils herrschend­en Parteien als ums Gemeinwohl, kritisiert Bilal Wahab von der Denkfabrik „Washington Institute“in den USA.

Anders als bei früheren Spannungen im Irak spielen konfession­elle Gegensätze zwischen der schiitisch­en Mehrheit und der sunnitisch­en Minderheit im Land diesmal keine Rolle: Iraker aller Glaubensri­chtungen wollen ein besseres Leben für sich und ihre Kinder. Fast 60 Prozent der rund 40 Millionen Iraker sind jünger als 24 Jahre, jedes Jahr drängen rund 700 000 neue Job-Suchende auf den Arbeitsmar­kt. Jeder fünfte junge Iraker ist arbeitslos. Angeheizt werden die Spannungen durch ein neues Nationalbe­wusstsein, das im Kampf gegen den IS entstand und das sich gegen den großen Einfluss des großen Nachbarn Iran richtet. „Raus mit dem Iran“, lautete nach Medienberi­chten einer der Schlachtru­fe der Demonstran­ten in Bagdad. Die Macht des schiitisch­en Iran im Irak stützt sich weniger auf religiöse Gemeinsamk­eiten als auf militärisc­he Hilfe im Kampf gegen den IS sowie auf die Finanzieru­ng mächtiger pro-iranischer Milizen und deren politische Vertretung­en.

Die Hoffnungsl­osigkeit treibt immer mehr Iraker aus dem Land. In der benachbart­en Türkei bilden sie inzwischen die stärkste Gruppe bei den ausländisc­hen Immobilien­käufern. In Deutschlan­d stellen Iraker nach den Syrern die zweitstärk­ste Gruppe der Asylbewerb­er.

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Foto: Hadi Mizban, dpa Ein Regierungs­gegner inmitten der Proteste.

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