Nicht mehr lebenswert?
Es gibt viele Hinweise auf Suizidabsichten bei älteren Menschen. Auf welche Äußerungen Angehörige achten sollten und was sie auf keinen Fall tun dürfen
Dr. Sperling, Sie sind Experte im Nationalen Suizidpräventionsprogramm und Gerontologe an der Uniklinik Mannheim. Was treibt ältere Menschen in den Suizid?
Uwe Sperling: Es handelt sich meist um ein ganzes Bündel an Beweggründen: Schwere körperliche Krankheit. Einschneidende soziale Veränderungen und Verluste. Überforderte Bewältigungsstrategien. Angst vor dem Verlust der persönlichen Selbstbestimmung – zum Beispiel bei Pflegebedarf. Oder das Gefühl, eine Last für andere zu sein. Auch psychische Krankheiten, wie Depression und Sucht, spielen eine Rolle und sollten auch im Alter nicht unbehandelt bleiben.
Woran erkenne ich die Suizidabsichten eines älteren Menschen?
Sperling: In erster Linie fallen sprachliche Äußerungen auf, mit denen ältere Menschen zu erkennen geben, dass sie so, wie im Augenblick, einfach nicht mehr weiterleben wollen und Schwierigkeiten mit ihrem Leben haben. Wenn sie zum Beispiel äußern, lieber tot sein zu wollen oder ihr Leben als „nicht mehr lebenswert“bezeichnen oder wenn sie konkrete Suizidgedanken oder Suizidpläne hegen, sollte der Gesprächspartner ganz genau hinhören. Derartige Äußerungen sollten unbedingt beachtet und aufgegriffen werden, da sie den älteren Menschen ernst sind, selbst wenn nur ein kleiner Teil davon tatsächlich in eine Suizidhandlung mündet und der Suizid vollzogen wird.
Gibt es noch andere typische Warnsignale?
Sperling: Ja. Abschließende Handlungen zum Beispiel, wie das ansonsten ungewohnte Verschenken von Wertgegenständen. Oder das überraschende Verfassen eines Testaments. Aber auch das Sammeln von Medikamenten. Besondere Aufmerksamkeit ist angebracht, wenn ein älterer Mensch nach einer längeren Zeit der Ambivalenz, dem Hinund Hergerissensein zwischen Lebensund Todeswunsch, ganz plötzlich sehr ruhig und ausgegliwirkt, er im Gespräch nicht mehr zu erreichen ist oder auch, wenn man selbst den Eindruck hat, dass alles auf einen Suizid hindrängt.
Spielt soziale Ausgrenzung für eine solche Verzweiflungstat eine Rolle? Sperling: Ich würde weniger von sozialer Ausgrenzung sprechen. In der Gesellschaft des langen Lebens, die für uns in Deutschland erst vor wenigen Jahrzehnten begonnen hat, sind die sozialen Rollen, in denen alte Menschen befriedigend leben können, noch wenig ausgestaltet. Nicht jedem gelingt es, seinen Platz als alternder Mensch zu finden. Gerade wenn gesundheitliche und praktische Einschränkungen im Alter hinzukommen, werden auch heute noch zunehmend negative und defizitorientierte Altersbilder herangezogen – auch von den Senioren selbst. Solche Altersbilder tragen ihren Teil zur Suizidalität im Alter bei, wenn beispielsweise regelmäßig von der „Überalterung Deutschlands“, der „Rentnerschwemme“, der „Alterslast“und so weiter gesprochen wird. Deshalb ist Suizidprävention auch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und nicht nur eine individuelle. Selbstverständlich gibt es auch markante individuelle Fälle sozialer Ausgrenzung und Abwertung, die ältere Menschen verletzen und Suizidalität fördern. Welche Folgen hat ein vollzogener Suizid für Angehörige und das soziale Umfeld?
Sperling: Neuere Schätzungen gehen davon aus, dass von einem einzelnen Suizid zehn bis 28 Personen durch unmittelbare Auswirkungen betroffen sind. Der Suizid eines Angehörigen kann das emotionale und soziale Gefüge, in dem man sich bis dahin relativ sicher bewegen konnte, geradezu auf den Kopf stellen und als ein seelisches Trauma erlebt werden. Jahrzehntelang, bis ins Alter hinein, kann eine solche Erfahrung sowohl die Beziehung zu sich selbst als auch die zu anderen wichtigen Personen stark beeinflussen und verändern.
Mit welchen Gefühlen werden die vom Suizid eines Angehörigen betroffenen Menschen konfrontiert?
Sperling: Neben Verlassenheits- und Schuldgefühlen spielen beim Erleben des Suizids eines Angehörigen auch die Selbststigmatisierung und Gefühle der Stigmatisierung durch andere eine sehr große Rolle. Es besteht die Gefahr, dass die Hinterbliebenen selbst suizidal werden. Deshalb stärken und unterstützen der Selbsthilfeverein „Angehörige um Suizid“und seine Selbsthilfegruppen deutschlandweit Trauernde nach Suizid und tragen somit zugleich zur Prävention der Angehörigen bei. Damit es nicht so weit kommt: Was können Nahestehende im Vorfeld bereits tun?
Sperling: Da ist zum einen wichtig, dem älteren Menschen diese notwendige Aufmerksamkeit zu schenken, das Gespräch zu suchen, Gespräche anzubieten, immer wieder nachzufragen und vor allen Dingen den Kontakt aufrecht zu erhalten. Sind dann doch merkliche Veränderungen vorhanden, sollte man schauen, ob man der betreffenden Person nicht Hilfe organisieren kann. Es gibt aber keine Garantie, dass ein Suizid nicht dennoch vollzogen wird. Wenn man alles für diese Person getan hat, muss man sich aber womöglich noch weniger Selbstvorwürfe machen.
Was sollte man auf keinen Fall tun? Sperling: Abwiegeln, wie zum Beispiel „ist doch halb so schlimm“. Oder formelhaft auf Dinge hinweisen, die doch so schön sind, sollte man vermeiden. Sie können bei einer lebensmüden Person nicht ankommen, sondern fördern eher den Eindruck, nicht verstanden zu werden. Auch ein panischer Alarmismus ist fehl am Platz. Vorwürfe wie „so etwas darfst du doch nicht sagen“verstärken eher die Distanz, als dass sie echte Anteilnahme und Besorgnis transportieren. Auch gute Ratschläge oder Bestärkung der Suizidchen absicht sind fehl am Platz. Das Ziel kann nicht sein, schnell eine Lösung für die gesamte Situation herbeizuführen, denn das würde ja mit dem Suizid erreicht. Sondern Zeit zu gewinnen, die es der betroffenen Person ermöglicht, vielleicht doch noch einmal eine andere Perspektive in einer als aussichtslos erscheinenden Situation zu gewinnen.
An wen kann man sich im Krisenfall wenden?
Sperling: Im Notfall wenden Sie sich an die Notrufnummern 112 oder 110 oder an die nächste Klinikambulanz. In allen anderen Fällen können Hausärzte, Psychologische Beratungsstellen zum Beispiel von Caritas, Diakonie oder Bayerischem Rotem Kreuz und auch Psychiatrische Kliniken, Seelsorger oder die Telefonseelsorge unter 0800-1110111 oder 0800-1110222 Ansprechpartner sein. Adressen für Hilfsangebote findet man auf der Website der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention, kurz DGS, unter suizidprophylaxe.de.
Interview: Melanie Klimmer