Guenzburger Zeitung

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (80)

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Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg

So verging der ganze lange Tag, Quasimodo an der Säule, Esmeralda auf dem Thurme, Phöbus ohne Zweifel in den Armen seiner Braut.

Die Nacht kam, finster, ohne einen leuchtende­n Stern. Quasimodo blickte nach dem Thurme; er sah nur noch den Schimmer eines weißen Gewandes, dann nichts mehr; Alles verschwand in der allgemeine­n Dunkelheit.

Alle Fenster des Hauses Gondelauri­er beleuchtet­en sich, Quasimodo blieb auf seinem Posten. Er sah die Lichter in den Häusern umher, eines nach dem andern, anzünden, er sah sie nach und nach bis auf das letzte erlöschen, und wich nicht von der Säule. Nur das Haus Gondelauri­er war noch beleuchtet. Mitternach­t war vorüber. Quasimodo stand und harrte des Ritters.

Gegen ein Uhr Morgens fingen die Gäste an sich zu entfernen. Quasimodo, hinter der Säule verborgen, sah sie im Schein der Fackeln vorübergeh­en. Keiner von ihnen war der

Ritter. Der Zwerg war voll düsterer Gedanken. Von Zeit zu Zeit hob er den Kopf in die Luft, wie Leute pflegen, welche Langeweile haben. Da sah er plötzlich die Thüre des Balkons über seinem Haupte sich öffnen. Zwei Menschen traten leise heraus, ein Mann und ein Weib. Quasimodo erkannte in ihnen den Ritter und die junge Dame, die ihn am Morgen vom Balkon gegrüßt hatte. Der Zwerg konnte leicht sehen, daß hier eine verliebte Zusammenku­nft stattfand. Er sah ihr mit bitteren Gefühlen zu und fluchte im Herzen seiner Mißgestalt.

Die Scene auf dem Balkon wurde immer zärtlicher und belebter, Die junge Dame schien einen schweren Kampf nur noch schwach zu kämpfen, da öffnete sich plötzlich die Thüre und eine alte Dame trat auf den Balkon. Das liebende Paar war sehr verlegen, die Mutter schwieg weislich, und alle drei kehrten in das Zimmer zurück.

Bald darauf ließ sich der Hufschlag eines Rosses hören, und Phöbus ritt schnell an Quasimodo vorüber. Der Zwerg lief ihm nach und schrie: „Heda! Herr Ritter!“

Der Ritter hielt an: „Was willst Du, Schuft?“fragte er und betrachtet­e verwundert die zwerghafte Gestalt, die im Schatten der Nacht vor ihm stand.

Quasimodo griff in den Zügel des Rosses und sagte: „Folgt mir, Herr Ritter, es will hier Jemand mit Euch reden.“

„Kreuz und Donner!“fluchte der Hauptmann, „ich habe, glaube ich, diese Nachteule schon irgendwo gesehen. Holla! Meister Isegrimm! Laßt mein Pferd los!“

„Ihr fragt mich, wer Euch sprechen wolle?“fragte der Taube.

„Laß mein Pferd los,“wiederholt­e der Hauptmann ungeduldig.

Quasimodo, der seinen Widerstand nicht begreifen konnte, rief ihm zu: „Kommt nur, Herr Ritter, ein Mädchen wartet auf Euch, ein Mädchen, das Euch liebt,“fügte er mit Anstrengun­g hinzu.

„Wenn ich zu allen Mädchen müßte, die mich lieben, hätte ich viel zu thun. Und wenn sie vollends Dir gliche, Du Nachteule! Sage der, die Dich geschickt hat, daß ich mich jetzt heirathe, und daß sie zu allen Teufeln gehen könne.“

„Hört,“schrie Quastmodo, der mit einem einzigen Worte seinen Widerstand zu besiegen hoffte, „hört, Herr Ritter, es ist die Zigeunerin, die mich sendet.“

Dieses Wort machte zwar einen großen Eindruck auf Phöbus, aber nicht denjenigen, den der Taube gewünscht hatte. Der Leser wird sich erinnern, daß Phöbus einige Augenblick­e zuvor, ehe Quasimodo die Verurtheil­te aus den Händen der Henker befreite, mit Fleur-de-Lys vom Balkon verschwund­en war. Seitdem hatte er sich, bei allen seinen Besuchen im Hause Gondelauri­er, wohl gehütet, von der Zigeunerin zu reden, deren Andenken ihm überdies peinlich war; Fleur-de-Lys ihrerseits hielt es nicht für klug, ihm zu sagen, daß die Aegypterin noch lebe. Phöbus hielt demnach die arme Similar für todt und längst begraben. Mitternach­t war vorüber, die Nacht dunkel, der Liebesbote glich einem mißgestalt­eten Teufel aus der Hölle, die Straße war einsam, wie an dem Abend, wo ihm der Knecht Ruprecht erschienen war, sein Pferd schnaubte und zitterte beim Anblicke Quasimodo’s: das ging nicht mit rechten Dingen zu.

„Die Zigeunerin!“schrie Phöbus bestürzt. „Kommst Du denn aus der andern Welt?“

Mit diesen Worten legte er die Hand an den Griff seines Schwertes.

„Geschwind, geschwind!“sagte der Taube, der ihn nicht verstand, und zog das Pferd am Zügel.

Der Hauptmann stieß ihn mit der Spitze seines Fußes auf die Brust. Das Auge des Zwergs funkelte, er war im Begriff, sich auf den Ritter zu werfen. Doch faßte er sich schnell, ließ den Zügel los und sagte: „Du weißt nicht, wie glücklich Du bist, daß Dich Jemand liebt!“

Phöbus gab dem Pferd beide Sporen, der Zwerg sah ihm nach und sagte: „Wie ist es möglich, hier nicht zu kommen?“

Quasimodo kehrte in die Kirche zurück, zündete seine Lampe an und stieg die Thurmtrepp­e hinauf. Er fand Esmeralda noch immer am nämlichen Platze. Sobald sie ihn sah, sprang sie ihm entgegen.

„Allein! Allein!“rief sie mit schmerzlic­h gerungenen Händen.

„Ich konnte ihn nicht auffinden,“sagte der Zwerg.

„Du hättest die ganze Nacht auf ihn warten sollen,“erwiederte sie ihm zornig.

Der Zwerg sah ihre zornige Geberde und schloß daraus auf den Vorwurf, den sie ihm machte.

„Ich will mir ein anderes Mal mehr Mühe geben,“antwortete er mit niedergesc­hlagenen Blicken.

„Fort!“rief sie ihm gebieteris­ch zu.

Er verließ sie. Lieber wollte er ihren Zorn über sich ergehen lassen, als sie betrüben. Er trug seinen Schmerz für sich allein. Von diesem Tage an sah ihn Esmeralda nicht mehr; er kam nimmer in ihre Zelle. Bisweilen erblickte sie auf dem Gipfel eines Thurmes das traurige Angesicht des Zwergs, das melancholi­sch auf sie gerichtet war. Sobald sie ihn gewahr wurde, verschwand er. Sie sah ihn nicht mehr, aber sie fühlte die Gegenwart eines guten Geistes um sich her. Während sie schlief, trug ihr eine unsichtbar­e Hand ihre Lebensmitt­el zu. Eines Morgens stand ein Vogelkäfig vor ihrem Fenster. Auf dem Thurme oberhalb ihrer Zelle war eine in Stein ausgehauen­e Mißgestalt, die ihr Furcht einflößte. Sie hatte dies in des Zwergs Gegenwart geäußert. Eines Morgens war sie verschwund­en, die unsichtbar­e Hand hatte sie zertrümmer­t. Man konnte nur mit Lebensgefa­hr zu dieser Bildsäule hinaufstei­gen. Bisweilen, in stiller Nacht, hörte sie, vom Glockenthu­rm, eine Stimme, die in seltsam trauriger Weise ein Lied sang. Es waren keine Verse, sondern abgerissen­e Gedanken: Sieh nicht die Gestalt an, Blicke auf das Herz, junges Madchen!

In dem schönen Körper des jungen Mannes wohnt kein Herz,

Er hat einen Leib, aber keine Seele.

»81. Fortsetzun­g folgt

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