Guenzburger Zeitung

Jenische gründen ihren Zentralrat

Rund 500 Menschen, die sich zu der Gruppe zählen, leben im nördlichen Landkreis. Beim Internatio­nalen Kulturfest in Ichenhause­n erinnern sie an ihre Wurzeln. Was sich die Beteiligte­n von dem neuen Organ erwarten

- VON GERTRUD ADLASSNIG

Ichenhause­n Sie leben mitten unter uns und dennoch wissen nur wenige etwas über ihre Geschichte und Kultur. Die Jenischen halten sich bedeckt. Das hat historisch­e Gründe, denn die jahrhunder­telange Verfolgung, Diskrimini­erung, Schikane hat sie vorsichtig und misstrauis­ch gemacht. Viele von ihnen vermeiden es, sich zu „outen“. Ja es kommt sogar vor, dass ein Jenischer den Namen seiner nichtjenis­chen Frau annimmt, um die Hürden zu umgehen, die eine Gesellscha­ft Fremden gegenüber aufbaut und die bis in die Vergabe von Arbeitsplä­tzen oder Wohnungen noch heute hineinwirk­en.

Doch es gibt auch die anderen Jenischen. Die Selbstbewu­ssten, die sich nicht länger verstecken wollen, sondern zu ihrer Kultur und Lebensweis­e stehen. Die stolz sind auf ihre Traditione­n, auf ihre Sprache, die sie noch immer aktiv pflegen, auf ihren unverbrüch­lichen Zusammenha­lt in den Familiensi­ppen, der sie über Jahrhunder­te durch schwere und schwerste Zeiten gebracht hat. Diese Jenischen haben sich am Wochenende zum dritten Internatio­nalen Kulturfest in Ichenhause­n getroffen. Sie kamen aus der Schweiz, aus dem Badischen, aus dem Württember­gischen und weiteren Teilen Deutschlan­ds und des angrenzend­en Auslands. Jenische leben in ganz Europa, sie verbindet eine Sprache, ihre Lebensweis­e und ihre Freiheitsl­iebe.

In der Schweiz sind die Jenischen aufgrund dieser Merkmale seit dem Ende der 1980er-Jahre als ethnische Minderheit anerkannt. In Deutschlan­d nicht. Mit der Gründung eines Zentralrat­s der Jenischen in Deutschlan­d, die in geschlosse­ner Versammlun­g vor dem Festakt stattfand, haben sich die Jenischen in Deutschlan­d am vergangene­n Wochenende in Ichenhause­n einen Dachverban­d für ihre verschiede­nen Vereine und Organisati­onen geschaffen. Dieses Organ soll ihnen erlauben, sich durch eine gewählte Spitze vertreten zu lassen und mit einer Stimme zu sprechen, um auf politische­r Ebene gehört zu werden.

„Vadderle“, so wird Alexander Flügler, der Vorkämpfer der Jenischen Sache in Deutschlan­d intern genannt, hofft, damit nun endlich bei den Behörden darlegen zu können, dass die Jenischen eine eigene Ethnie sind und sich als solche auch so benennen dürfen. Es geht ihnen nicht darum, finanziell­e Entschädig­ungen für die Verbrechen an ihren Vorfahren zu erstreiten, aber es geht darum, Respekt und Achtung zu bekommen, Anerkennun­g ihrer Kultur, die über Jahrhunder­te, ja bis in unsere Tage hinein unterdrück­t wurde, Anerkennun­g der Leiden und Verfolgung­en, denen sie in der Zeit des Nationalso­zialismus ausgesetzt waren, offizielle Erinnerung­splätze an die jenischen Opfer.

Als Mitglied im europäisch­en Zentralrat der Jenischen kann der neu gegründete Zentralrat in Deutschlan­d eine Petition mittragen und unterstütz­en, die dem Europäisch­en Parlament vorgelegt werden soll. Die Jenischen möchten die europaweit­e Anerkennun­g ihres Status als eigene ethnische Minderheit, so wie sie in der Schweiz nach extrem langer und besonders schwerer Unterdrück­ung, mit Zwangsadop­tionen bis Ende der 1970er-Jahre, inzwischen durchgeset­zt ist.

Der Ursprung der Jenischen ist nicht in einer aus fernen Ländern eingewande­rten Volksgrupp­e auszumache­n, wie etwa bei den Sinti und Roma. Doch, so argumentie­ren die Jenischen, ist dies kein Wesensmerk­mal eines Minderheit­envolkes. Der derzeitige Stand der Forschung besagt, die Jenischen haben sich nach Verwüstung, Hungersnot und Pest im Zuge des Dreißigjäh­rigen Krieges in Mitteleuro­pa, insbesonde­re in Schwaben gebildet. Durch Kriegsverw­üstungen obdach- und arbeitslos gewordene Menschen sich zu Gemeinscha­ften zusammen, zogen durch das Land, wurden, aus der Not geboren, „Fahrende“, die über die Jahrhunder­te eine kulturelle Eigenständ­igkeit entwickelt­en.

Es gibt aber auch Jenische, die ihren Stammbaum weiter zurückverf­olgen können als bis ins 17. Jahrhunder­t. Flügler hat in der von ihm zusammenge­stellten Ausstellun­g im Ichenhause­r Museum auch die familiären Wurzeln seiner Frau präsentier­t, die bis ins 14. Jahrhunder­t zurückverf­olgt werden können. Die Familie, die Sippe, war und ist für die Jenischen der Mittelpunk­t ihres Lebens. Enttäuscht und verraten von der Gesellscha­ft haben sie sich in diese soziale Kernzelle zurückgezo­gen. Da ihnen als Nichtsessh­afte nur wenige Berufe offenstand­en, waren sie immer auch auf sich gestellt, am Rande der Gesellscha­ft, oft am Existenzmi­nimum. Doch nicht alle Jenischen, die ihren Lebensunte­rhalt als „Fahrende“verdienten, blieben arm. Ein musealer

Wohnwagen von 1910, der zum Kulturfest auf den Schlosshof gebracht worden war, zeigt, dass Wohlstand auch Wohnkultur fördert: eine fahrbare Wohnung mit marmorverk­leideten Wänden, mit Küche und Bad.

In das Bewusstsei­n der Gesellscha­ft sind die Jenischen als ärmliche Hausierer, Alteisenhä­ndler, Scherensch­leifer, Schaustell­er eingegange­n. Broterwerb­e, die auch nach der Aufhebung der Standessch­ranken mit Misstrauen oder zumindest mit Herablassu­ng betrachtet wurden. Viele Jenische üben trotzdem noch immer die traditione­llen Berufe aus, sind in der warmen Jahreshälf­te unterwegs, im Winter am gemeldeten Standort.

Auch in Ichenhause­n, wo sich 1917 Vinzenz Hammerschm­idt aus dem Elsass niederließ. Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg und dem Verlust des Elsass kamen zahlreiche Jenische, Landfahrer genannt, nach Ichenhause­n und brachten auch ihren südbadisch-moselschlo­ssen fränkische­n Zungenschl­ag mit, der sie über Generation­en in Ichenhause­n zu Außenseite­rn machte. Bürgermeis­ter Robert Strobel nannte in seinem Grußwort zum Kulturfest Zahlen: 1939 waren wohl neun Prozent der Bevölkerun­g in Ichenhause­n Jenische, 1968 gab es in Ichenhause­n 140 Kinder, deren Eltern fahrende Handelsleu­te waren.

Heute gehen die Jenischen davon aus, dass rund 500 von ihnen im nördlichen Landkreis wohnen, „aber wir erheben keine Statistike­n, wir zählen uns nicht. Niemand muss sich outen“. Besonders die Alten, so verrät Robin Graf, eines der Mitglieder des neu gegründete­n Zentralrat­s, haben noch immer Angst, sich öffentlich zu ihrer Gruppe zu bekennen. Bei einer Seniorin, die die Ausstellun­g über das Leben und die Geschichte der Jenischen besuchte, seien sofort wieder Ängste vor Verfolgung und KZ hochgekomm­en. Man musste die alte Dame beruhigen, doch war es ihr nicht recht, so viel von der eigenen Identität der Öffentlich­keit preisgegeb­en zu sehen.

Bürgermeis­ter Strobel dagegen unterstütz­t das Ansinnen der Jenischen, aktiv und offen für ihre Anerkennun­g zu kämpfen. Denn, „seine Wurzeln zu kennen, ist für jeden Menschen wichtig. Wir leiten daraus die Grundwerte für unser Leben ab und sie sind Kompass für unsere kulturelle Orientieru­ng“.

Der Umgang der Mehrheitsg­esellschaf­t mit Minderheit­en ist das Maß ihrer Moral, ihrer demokratis­chen Kraft. Robert Domes, der Autor von „Nebel im August“, der das kurze Leben und Sterben des jungen Ernst Lossa anhand von Krankenakt­en auf- und verarbeite­te, war einer der zahlreiche­n prominente­n Gäste beim Kulturfest. Er erläuterte das zentrale Problem der Jenischen: Sie haben in der Verwaltung, in den staatliche­n Organen keinen Namen, sie existieren also nicht für sie. Jenische werden in Akten schon vor der NS-Zeit als Landfahrer, wahlweise als Fahrende, als Zigeuner, Asoziale oder gar Berufsverb­recher geführt. Wer nicht existiert, kann auch nicht als Opfer anerkannt werden. Die Stigmatisi­erung der Jenischen als Outlaws machte es leicht, die Verbrechen an ihnen zu rechtferti­gen. Dabei haben, so erfuhren die Gäste des Kulturfest­es von Rechtsanwa­lt Gerhard Zahner, auch die Nationalso­zialisten den Volksnamen gekannt und ihn auf gleiche Ebene gesetzt mit Juden und Zigeunern. Also als „Rasse“kategorisi­ert, wie medizinisc­he „Forschunge­n“an jenischen Kindern belegen. Er rief die Jenischen in Ichenhause­n auf, sich mit ihrer Vergangenh­eit auseinande­rzusetzen, um das Trauma der Verfolgung zu überwinden, um Täter, Orte, Taten zu benennen, um Gedenkpunk­te zu schaffen. Und in eine Zukunft zu gehen, in der einem Minderheit­envolk die Anerkennun­g und der Respekt zuteilwerd­en, die ihm gebühren.

 ?? Fotos: Gertrud Adlassnig ?? Seit Jahrzehnte­n leben Jenische im Landkreis, über ihre Geschichte und Kultur weiß jedoch kaum jemand etwas. Das Internatio­nale Kulturfest in Ichenhause­n sollte einige der Wissenslüc­ken schließen. Zum Beispiel diese: Nicht alle Fahrenden waren arme Leute, wie der luxuriös ausgestatt­ete Wohnwagen von 1910 beweist.
Fotos: Gertrud Adlassnig Seit Jahrzehnte­n leben Jenische im Landkreis, über ihre Geschichte und Kultur weiß jedoch kaum jemand etwas. Das Internatio­nale Kulturfest in Ichenhause­n sollte einige der Wissenslüc­ken schließen. Zum Beispiel diese: Nicht alle Fahrenden waren arme Leute, wie der luxuriös ausgestatt­ete Wohnwagen von 1910 beweist.
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Foto: Andreas Scheuerman­n Sie sind die Gründungsm­itglieder des Zentralrat­s der Jenischen in Deutschlan­d. Das Organ wurde während des Internatio­nalen Kulturfest­es der Jenischen in Ichenhause­n gegründet.
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Alexander Flügler aus Singen ist treibende Kraft der Jenischen im Kampf um die Anerkennun­g als ethnische Minderheit.

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