Angela Merkel im Bademantel
Ein geschwätziger Toter driftet ruhelos durch sein Leben und Berlin
Ein Toter schwebt über der deutschen Hauptstadt, ein entkörperlichtes Wesen, ein geschwätziger Geist. Das irdische Dasein und das zurückgelassene Westberliner Milieu ziehen den offenkundig frisch Verstorbenen noch immer an. Da blickt er von oben auf sein vergangenes Leben und stöbert unsichtbar durch Häuser und Straßen – hin- und hergerissen zwischen Neugier und Überdruss, Einsamkeit und Heilserwartung. Wer er war? Höchstwahrscheinlich ein Professor für Philosophie an der FU, da ist sich das Gespenst selbst nicht mehr ganz sicher – im großen Rest aber schon. Bruce Springsteen, Rilke, Heidegger, Kafka, Lehnert, Schiller: In allem, was sie aus dem Zwischenreich zitiert, erweist sich die namenlose tote Plaudertasche als textsicher und gebildet.
Durch 41 kurze Kapitel schickt Sibylle Lewitscharoff in ihrem neuen Roman „Von oben“den ruhelosen, akademisch beschlagenen Toten. Der hat als Erzähler eine Vorliebe für burschikos-muntere Formulierungen. Ständig hat ihn etwas „am Wickel“. Mal ist es „das Thema Grab“, dann „das Irresein“oder „die Fantasie“. Verschmockte Begrifflichkeiten, die wie Häkeldeckchen auf dem oft dozierenden Text liegen, sammeln sich einige an bei der Lektüre dieses Buches, das zu viel auf einmal will. „Kletterfex, Schmalwicht, Trauerkloß, Fiffies, Unglückswurm, feiger Heini, hinreißende Hundedame, alte Flamme, Nickerchen, stibitzen.“
Zwar begegnet der Leser guten Freunden des Philosophieprofessors, er erfährt durch dessen Erinnerungen und Wachphasen etwas über seine Ehe mit Marie, über sein Bücherwissen, über schwäbische Kindheit und prägende Erlebnisse… Und doch bleibt diese Hauptperson seltsam amorph und blutleer. Ein literarisches Supergelenk, das die Autorin wortreich strapaziert und in Bewegung hält. Der Tote jedenfalls neigt zur Fahrigkeit und klagt über „das mäandernde Gestammel, das ich zuwege bringe“.
Seine Beobachtungen und Einmischungen in die Welt der Lebenden sind oft willkürlich. Es ist ein Mix von allem. Lewitscharoff schreibt nach dem Gießkannenprinzip. Alles will bedacht und einbezogen, angetippt und mitgenommen sein. Die Büchner-Preisträgerin hält auch holzschnittartige Hilfsgriffe für legitim – von oben ist alles erlaubt. Unser Held braucht bei einem Exkurs über Planeten gerade mal das Stichwort Marssonde? Kein Problem. Schon sieht er von oben einen Mann sitzen, der zufällig eine passende Meldung über die Marssonde „InSight“in der Zeitung liest… Danke.
Einmal schaut der ruhelos durch den Luftraum irrende Erzähler bei Angela Merkel vorbei, die im karierten Bademantel in der Küche Akten studiert und sich auf ein Treffen mit Emmanuel Macron vorbereitet. Räsonierend fragt sich der Tote: „Hat Frau Merkel womöglich versucht, sich von ihrer Schuld zu befreien, indem sie auf beeindruckend großzügige Weise dafür sorgte, dass viele Flüchtlinge in Deutschland Aufnahme fanden?“An einem anderen Tag schneit der Erzähler bei einer Lach-Therapiegruppe von Frauen rein, er betrachtet den Blutmond und interessiert sich für alles Mögliche sonst – ob für einen Sado-Maso-Club oder das Warenangebot im KaDeWe. Der Tote nimmt’s, wie es ihm der Zufall hinwirft: eine Beischlafszene hier, ein ergreifendes Orgelspiel dort. Langweilig wird’s in dieser Totendrift nicht. Einmal wird er Zeuge, wie ein Mädchen von einem Hochhausdach in den Tod springt, im Kapitel danach taucht Erdogans Schwiegersohn auf, ein „stirnrunzelndes Bübchen“. Nebenbei aufgerufen im Gemischtwarenladen werden Brentano, Jandl, Handke, Beckett und Bernhard. Platz findet sich auch für die Vignette der gutbürgerlichen Familie mit Grauen hinter Villenfassade, wo der Mann die Frau schlägt und das Kind in einem Zimmer voller wohlaufgeräumtem Luxus unglücklich ist…
Diese Mixtur aus Tagesaktualität, Drama und Komik, geflissentlichem Einstreuen von Bücherwissen und Lesefrüchten, das Aneinanderreihen von episodischem Gesellschaftsgeschwätz und Abstechern ins Westberliner Milieu wirbelt jede Menge Stoff auf. Doch es fügen sich diese Miniaturen nicht zu einem Roman – das Buch bleibt das Abarbeiten einer Themenliste, einer überambitionierten Agenda. Zwischen Gotteszweifel, Sinnsuche, Zeitgenossenschaft und Banalität geht es munter hin und her. Hoch hinaus auf den Mond, dann tief hinunter in einen Darm in der Schausammlung der Charité. Als reiner Beobachter, der auf der Erde nicht eingreifen kann und für die Lebenden Luft bleibt (unter den Toten trifft der Professor keine Bekannten), grämt, schwatzt und denkt sich der räsonierende Erzähler von Episode zu Episode. Hört, wie sie über ihn reden, sieht sich im Leben der anderen gespiegelt. „Ich bin da und trotzdem mausetot. Vielleicht aufmerksamer, als ich je in meinem Leben gewesen bin, aber tot. Tot, tot, tot, das könnte ich in einer Endlosschleife vor mich hinsagen. Totzukriegen sind aber nicht meine Gedanken.“Kann man wohl sagen.
Alles muss auf maximal fünf Seiten abgehandelt sein. Die Westberliner Schwulenszene, die Geschichte eines Renegaten, der vom Maoisten zum Rechtsradikalen wurde, die Flüchtlinge an der Grenze von Mexiko zur USA, die Anhörung im Fall des umstrittenen Kandidaten für den Obersten US-Gerichtshof, Brett Kavanaugh. Anfliegen, Mitkriegen, Quasseln, Aussteigen. 237 Seiten lang ist das nicht totzukriegen.
Michael Schreiner
„Ich bin da und trotzdem mausetot“