In der Lobby auf den Tod warten
Das packende Psychogramm einer unter Stalins Terror zweifelnden Agentin
lässt, die „Säuberungen“, halten sie zunächst einmal für richtig und notwendig. Sie nehmen sich selbst ins sozialistische Gebet.
In einem in Charlottes Kaderakte enthaltenen Brief, mit dem sie sich bei ihren Vorgesetzten für die Nähe zu besagtem trotzkistischen Volksfeind – er heißt Alexander Emel – rechtfertigt, heißt es zum Schluss: „Ich muss sagen, dass es mir ganz unmöglich war, hinter seine glatte Doppelzüngigkeit zu kommen. Aber ich will die Lehre daraus ziehen, dass erstens ein Parteiarbeiter in der Auswahl seiner persönlichen Bekannten größeres Misstrauen walten lassen muss, und zweitens, dass ich viel ernsthafter und gründlicher die Geschichte der Bolschewistischen Partei studieren muss, um dadurch meine Klassenwachsamkeit auf ein höheres Niveau zu heben.“Je mehr ihrer alten Kollegen allerdings nach monatelangem, zermürbendem Warten nachts aus dem Metropol geschleppt werden, desto fraglicher sind die alten Gewissheiten. Es ist die „Ratte“des Zweifels, die an ihren Überzeugungen nagt.
Hätte Ruge einfach entlang der überlieferten Fakten erzählt, hätte er als Form einfach die Dokumentation dieser wahnsinnig machenden Schicksale gewählt, das allein hätte sicher auch getragen. Allerdings wären einem die Hauptfiguren wohl distanziert geblieben. Charlotte kommt man erst durch die Blicke in ihre Gedankenwelt so nahe. Sie ist vielschichtig und fein gezeichnet. Auch die ihren Systemzweifeln letztlich erliegende Denunziantin, Hilde Tal, erschließt sich mit ihren Wendungen sehr. Etwas zu breit konturiert allerdings ist die Figur des Vorsitzenden des Militärkollegiums des Obersten UDSSR-Gerichts, Wassili Ulrich, geraten (fett, eher impotent, von Flatulenzen geplagt). Dabei lässt Ruge ihn zentrale Sätze sagen: „Nein, der Glaube der Menschen hängt nicht von Fakten ab, nicht von Beweisen. (...) wer etwas glauben will, findet einen Weg! Er wird sich durch den winzigen Spalt quetschen, den die Wahrheit ihm lässt. Wird die Dinge so lange drehen und wenden, bis sie wieder in seinen Glauben hineinpassen, und seine ganze Klugheit wird ihn nicht etwa daran hindern, sondern ihm dabei noch behilflich sein.“
Eugen Ruge wertet wenig, er beschreibt, wie seine Protagonisten sich in schwierigsten Zeiten ihre Wahrheit, ihren Glauben zurechtquetschen. Gerade das macht seinen Roman so lesenswert. Stefan Küpper Eugen Ruge: Metropol Rowohlt, 432 Seiten, 24 Euro