Worte des Lebens, Bilder vom Krieg
Selten geht ein Buch auf so vielfältige Weise schief – und ist dabei doch großartig. Denn was konstruiert der bereits mit dem Prix Goncourt ausgezeichnete Jérôme Ferrari darin nicht alles! „Nach seinem Bilde“richtet sich in den Kapiteln nach dem Aufbau einer Messe – die nämlich muss ein Priester für seine geliebte, plötzlich gestorbene Nichte halten. Jedes Kapitel verweist zudem auf eine Ikone der Kriegsfotografie, weil jene verunglückte Antonia als Kriegsfotografin gearbeitet hat, im Jugoslawien-Krieg und vor allem im Bürgerkrieg in ihrer Heimat, auf Korsika. Aber gezeigt werden die ikonischen Bilder in diesem so schönen, samt Leinen handschmeichlerischen Buch nicht. Und dann schneidet der ja selbst von jener Insel stammende und immer wieder über sie schreibende Jérôme Ferrari die Geschichte dieses Konflikts auch noch gegen: mit dem Leben der Antonia, mit den Gedanken des Onkels, mit den Biografien berühmter Kriegsfotografen, mit dem Verlauf des Gottesdienstes…
Und eigentlich geht gar nichts davon auf. Aber vielleicht gerade in diesen Trümmern des Großen und Kleinen entstehen so starke Momente, die eben mehr über das Leben und den Krieg, die Liebe und den Tod erzählen als ein so nett nach Muster sich entfaltendes BestsellerPanorama wie in Fernando Aramburus „Patria“. Denn so ist doch auch das Menschsein: erhaben und lächerlich, vergeblich und zauberhaft, ungerecht und schön, sinnvoll und zufällig. Wolfgang Schütz Jérôme Ferrari: Nach seinem Bilde
A. d. Franz. von Christian Ruzicska, Secession Verlag, 208 Seiten, 20 Euro
Auch nach der Hölle kann man sich zurücksehnen. In diesem Fall heißt die Hölle Hellange, eine fiktive Stadt im ehemaligen Bergbaugebiet in den französischen Vogesen, unweit der Grenze zu Luxemburg. Ein Tal, sechs Städte und ein paar Dörfer, um die das Glück scheinbar immer schon einen Bogen gemacht hat. „Kinder waren von Wölfen, Kriegen, Fabriken verschlungen worden: Und nun waren Anthony und Steph hier und blickten auf die Verwüstung“, so beschreibt Nicolas Mathieu das Lebensgefühl der heftig pubertierenden Hauptdarsteller zu Beginn seines trostlos-realistischen Heimatromans. Es ist das Jahr 1992, die Sommerferien dehnen sich endlos und die Hormone fahren Achterbahn.
In Zweijahresabständen kehrt Mathieu während vier Sommern immer wieder nach Hellange zurück und beobachtet, was aus den langsam erwachsen werdenden Jugendlichen wird, die sich doch anfangs noch alle fortsehnen, nach anderen Städte und anderen Leben als jenen, die ihre Eltern ihnen vorgelebt haben. Im Falle von Anthony heißt das: ein Vater, der stolz war, nicht die Schule abgeschlossen zu haben, stattdessen schon früh angefangen hat, mit eigenen Händen Geld zu verdienen. Ein Haus, ein Kind und am Feierabend mit den Nachbarn auf der Terrasse grillen – und dazu ein paar Gläschen trinken. Mehr will er nicht. Mehr sollten aber auch Anthony oder seine Frau nicht wollen, sonst springt die Fassade des kleinen Glücks und Patrick Casati teilt mit seinen Arbeiterhänden aus.
Anthonys Mutter hat resigniert, gegen das Gefühl der Endgültigkeit ihrer Lebensentscheidungen tröstet sie sich mit Affären. Wenn nicht Patricks Trinkerkarriere alles zunichtemachte, ginge es wohl immer so weiter. „Wie später ihre Kinder“ist der Titel des Romans und man ahnt bald: Auch Anthonys Wut auf diese Welt wird ihm nicht als Antrieb reichen, sein Leben in andere Bahnen zu lenken. Womit die Grundfrage des Romans umschrieben wäre, der dem zuvor relativ unbekannten Autor den Prix Goncourt 2018 eingebracht hat – und der mitten hineinzielt in eine seit langem schwärende Wunde in der französischen Gesellschaft: Wer ist Schuld daran, dass ganze Landstriche ausbluten, weil Unternehmen schließen, Arbeitsplätze verschwinden und Städte veröden? Und wer ist da noch, um die betroffenen Menschen zu vertreten, wenn Kirchen und Gewerkschaften keine Rolle mehr spielen und die Politik in Zeiten leerer Kassen, nichts mehr zu verteilen hat?
Mathieu reiht sich damit ein zwischen Autoren wie Didier Eribon und Èdouard Louis, die in einer Art öffentlicher Biografiearbeit diese neue soziale Frage in die Literatur getragen haben. Doch der literarische Filter, durch den Mathieu das Phänomen betrachtet, ist viel feiner.
Mathieu verhandelt die Gegenwart, aber in seinem Roman blickt er zurück in die 90er, das Jahrzehnt, in dem die Generation der heute um die 40-Jährigen groß geworden ist. Jene Menschen, von denen man vor einer Generation noch gesagt hätte, in diesem Alter steht man fest im Beruf, hat eine Familie gegründet und ein Haus oder eine Wohnung