Ganz nah dran am Brexit-Deal
Reicht die Zeit, um beim heutigen EU-Gipfel ein Abkommen vorzulegen? Es wird knapp. Und ein EU-Austritt Großbritanniens Ende Oktober wird immer unwahrscheinlicher
Brüssel Vier Mal hatte Michel Barnier die Botschafter der 27 EU-Mitgliedstaaten am Mittwoch schon vertröstet. Aber am Abend kam der Chefunterhändler Brüssels bei den Brexit-Verhandlungen dann endlich mit einer guten und einer schlechten Nachricht zu den Top-Diplomaten. Der Deal steht – das war die gute Nachricht. Es fehlt nur noch eine Einigung über die Umsatzsteuer in Nordirland – das war die schlechte.
Während Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron am Rande eines Airbus-Besuches in Toulouse bereits von der Hoffnung sprach, dass die Staats- und Regierungschefs am heutigen Donnerstag in Brüssel das so lange erwartete Abkommen mit Großbritannien unterschreiben könnten, warteten die Delegationen noch auf eine Nachricht aus London, wie die Steuerfrage denn entschieden werden sollte.
Der Deal war zu einem komplizierten, juristischen Sammelwerk über alle nur denkbaren Fragen geworden. „Wir reden weiter“, hieß es am späten Abend aus dem Kreis der Unterhändler Londons und Brüssels, während britische Medien dagegenhielten und die Nachricht verbreiteten: „Kein Deal noch in dieser Nacht.“
Derweil zählte ein Witzbold via Twitter die Zeit herunter: „Noch 365 Stunden bis zum Brexit“am 31. Oktober 2019. Er dürfte sich irren. Denn im Laufe des Tages war mehr und mehr deutlich geworden, dass ein Deal seine eigentliche Reifeprüfung erst noch bestehen muss, wenn der britische Premierminister Boris Johnson ihn am Samstag dem Unterhaus in London vorlegt, in dem er keine Mehrheit hat.
Den ersten bekannt gewordenen Details zufolge ist der umstrittene Backstop, der eine harte Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland verhindern sollte, vom Tisch. Es soll künftig eine Zollgrenze geben, die durch die Irische See verläuft. Dies macht es wiederum notwendig, dass die Ein- und Ausfuhrkontrollen von britischen Stellen vorgenommen werden.
Damit das auch wirklich funktioniert, will sich die EU eine Art Beobachterstatus sichern. Man werde stichprobenartig die Praxis in den britischen Häfen und den anderen Kontrollpunkten überwachen. Um zu verhindern, dass das Vereinigte Königreich der Union künftig dadurch Konkurrenz macht, dass britische Unternehmen alle möglichen europäischen Standards untergraben, verlangte Brüssel die Zusage, die bisherigen Sozial- und Umweltvereinbarungen weiter einzuhalten. Damit sollen die Integrität des Binnenmarktes sichergestellt und das Entstehen eines Schlupflochs verhindert werden, durch das nicht zulässige Billigimporte in die Gemeinschaft einsickern.
Dieses Paket galt am Abend als vereinbart, die Voraussetzungen für einen geordneten Brexit also geschaffen. Doch was ist das Papier wirklich wert? Unabhängig vom Zustandekommen eines Austrittsabkommens scheint ein geordneter Brexit am 31. Oktober rein technisch kaum noch möglich. Denn die Installation des neuen Kontrollsystems mit dem Grenzverlauf in der Irischen See braucht mehrere Monate Vorbereitung, sodass bereits vom 31. Januar 2020 als neuem Stichtag die Rede ist.
Hinzu kommen weitere Unsicherheiten über den Fortgang der Ereignisse im Vereinigten Königreich. Sollte der britische Premier am Samstag mit dem Deal im Unterhaus scheitern, werde er offiziell
Anzeichen auf ein zweites Referendum verdichten sich
eine weitere Verschiebung beantragen, wurde gestern in London bekannt. Bis zu einem neuen Datum (beispielsweise Ende Januar) müsste der Deal neu oder weiterverhandelt werden.
Allerdings verdichten sich die Anzeichen, dass Johnson noch in diesem Jahr möglicherweise ein zweites Referendum ansetzen könnte, das die Karten völlig neu mischen würde. In einigen Zeitungen des Landes wurden gestern Umfragen zitiert, denen zufolge eine knappe Mehrheit der befragten Briten für einen Verbleib in der Europäischen Union votieren würde. In diesem Fall käme Johnson wohl nicht umhin, den Antrag auf Austritt nach Artikel 50 zurückzuziehen: Die Briten blieben, was sie sind – EU-Mitglied.
Und ob der Premierminister dann noch Boris Johnson heißt, müssten wohl erst noch Neuwahlen ergeben, von denen auf der Insel alle Beobachter ausgehen.