Guenzburger Zeitung

Der Schatz im ewigen Eis

Auf der norwegisch­en Insel Spitzberge­n führt eine Stahltür in einen Bunker. Dort lagert Saatgut von rund einer Million Pflanzen. Im Ernstfall soll es das Überleben der Menschheit sichern. Doch ausgerechn­et am Polarkreis läuft der Klimawande­l noch viel sch

- VON BERNHARD JUNGINGER

Longyearby­en Die Arche Noah der Pflanzen liegt an einem der kältesten und entlegenst­en Orte der Welt. Auf einer von schneidend­en Winden umtosten Anhöhe, 130 Meter über dem Polarmeer auf der norwegisch­en Arktisinse­l Spitzberge­n, ragt ein bizarrer Zacken aus armiertem Beton aus dem Boden. Es ist der Eingang zu einem riesigen unterirdis­chen Tresor, in dem, tiefgekühl­t bei minus 18 Grad Celsius, Saatgutpro­ben von rund einer Million Nutzpflanz­en lagern. Sie sollen die Ernährung und damit das Überleben der Menschheit im Falle großer Katastroph­en ermögliche­n.

Betrieben wird die Anlage, die an den Schauplatz eines James-BondFilms erinnert, von der internatio­nalen, gemeinnütz­igen Organisati­on Crop Trust mit Sitz in Bonn. Direktorin Marie Haga lässt das dicke stählerne Haupttor von einer Sicherheit­skraft öffnen. Nur eine Handvoll Menschen besitzen den Zugangscod­e. Dann betritt die norwegisch­e Ex-Politikeri­n einen eiskalten, von Leitungen und Kabeln durchzogen­en Betontunne­l. Sie deutet mit behandschu­hten Fingern auf eine zweite Tür, die noch massiver wirkt. „Seit seiner Inbetriebn­ahme 2008 füllt sich der Tresor immer mehr. Saatgutban­ken aus aller Welt lagern hier praktisch Sicherungs­kopien des Gen-Schatzes aus 13000 Jahren landwirtsc­haftlicher Geschichte ein.“Haga erzählt von tausenden Varianten Hirse aus Afrika, Reis aus Asien. Weizen, Gerste, Hafer, Roggen und Mais aus Europa oder Amerika. Von Sämereien unzähliger Obst- und Gemüsesort­en, von denen viele kaum noch oder gar nicht mehr angebaut werden. Sie zeigt, wie jeweils eine Handvoll Samen einer Art in unscheinba­re Alubeutel verpackt wird. In Plastikkis­ten sollen die Proben dann mehr als 1000 Jahre überdauern können.

Der Saatgut-Safe selbst, der sich hinter der zweiten Tür befindet, darf nur geöffnet werden, um neue Proben einzulager­n. Das ist an diesem Oktobertag nicht der Fall. Eine Ausnahme gibt es auch für den deutschen Entwicklun­gsminister Gerd Müller nicht. Der CSU-Politiker, den sein Amt oft in die heißesten Regionen der Erde führt, ist gekommen, um Haga gute Nachrichte­n zu überbringe­n. „Deutschlan­d wird seine Unterstütz­ung für die Bewahrung des Saatguts ausbauen und stellt dafür in den kommenden Jahren weitere zehn Millionen Euro zur Verfügung“, sagt er. Dem Saatgutspe­icher werde vor dem Hintergrun­d der Erderwärmu­ng gerade für die Länder des Südens entscheide­nde Bedeutung zukommen: „Diese Samen können zur Züchtung neuer, klimaangep­asster Nutzpflanz­ensorten verwendet werden.“Müller nennt die Saatgutpro­ben aus aller Welt eine „Versicheru­ng für die Zukunft“der Menschheit. „Hier wird die Pflanzenvi­elfalt des Planeten für die kommenden Generation­en konservier­t“, sagt er.

Stollen für die wertvollen Pflanzensa­men wurde in Spitzberge­n gegraben, weil die Wissenscha­ft keinen Ort auf dem Planeten für geeigneter hielt. Kälter als hier, exakt 1309 Kilometer vom Nordpol entfernt, geht es kaum. Trotzdem können die Proben aus der ganzen Welt über den nördlichst­en kommerziel­len Flughafen der Erde vergleichs­weise bequem angeliefer­t werden. Und sicherer geht es auch kaum. Spitzberge­n, das zu Norwegen gehört, ist entmilitar­isierte Zone. Schusswaff­en tragen die rund 2000 hier lebenden Menschen nur zum Schutz vor Eisbären. Internatio­nale Verträge verbannen Kriegsgerä­t von der Insel. Das Risiko von Kriminalit­ät, Vandalismu­s oder Terroransc­hlagen ist schon durch die Abgelegenh­eit gering. Der Bunker ist so konstruier­t, dass er sogar einen Atomkrieg überstehen könnte.

Doch ein Phänomen erweist sich für den Saatguttre­sor der Menschheit als gefährlich­er als erwartet: die Erderwärmu­ng. Auf Spitzberge­n sind die Folgen des Klimawande­ls am schnellste­n und stärksten zu spüren. Der Permafrost­boden be

Entwicklun­gsminister Gerd Müller und Kim Holmén, Chef des norwegisch­en Polarinsti­tuts. ginnt zu tauen. Vor drei Jahren drang Schmelzwas­ser in den Eingangsbe­reich des Speichers ein. Zwar wurden die Saaten selbst nicht gefährdet. Doch der Zwischenfa­ll, der aufwendige Nachbesser­ungen an der Konstrukti­on nach sich zog, war für die Wissenscha­ft ein Schock. Denn die Saaten sollten im vermeintli­ch ewigen Eis ja erstens vor den Folgen von Wetterextr­emen geschützt werden und zweitens auch für die Entwicklun­g von Pflanzen genutzt werden, die besser mit extremen Bedingunge­n klarkommen.

Warum sich der Klimawande­l auf Spitzberge­n wie im Zeitraffer abspielt, kann ein Mann mit AlmöhiBart und Wollmütze samt pinkfarben­em Bommel erklären. Die exzentrisc­he Kopfbedeck­ung ist das Markenzeic­hen von Kim Holmén, einem der populärste­n Wissenscha­ftler Norwegens. „In Spitzberge­n ist die winterlich­e Durchschni­ttstempera­tur in den vergangene­n fünf Jahrzehnte­n um sieben Grad gestiegen. Denn in der Arktis gibt es einen gefährlich­en Verstärker­effekt beim Klimawande­l.“Ganz hat auch die Wissenscha­ft das PhäDer nomen noch nicht erfasst. Es ist sehr komplizier­t, räumt Holmén ein, versucht dann doch zu erklären: „Eis und Schnee werfen Sonnenlich­t durch ihre weiße Farbe zurück. Wenn sie schmelzen, vergrößert sich die Wasserfläc­he. Das schwarze Meer nimmt die Strahlen aber auf, das Wasser erwärmt sich und verstärkt wiederum die Tauprozess­e.“

Der Klimaforsc­her deutet über den Fjord zu Füßen des SaatgutBun­kers: „Die Eisdecke schmilzt in den vergangene­n Jahren immer früher. Und die Gletscher in der Region werden jährlich um 30 bis 40 Zentimeter dünner.“Gerd Müller hört aufmerksam zu. „Unter dem steigenden Meeresspie­gel leiden die Menschen in den Entwicklun­gsländern am meisten“, sagt er. Holmén nickt. Der internatio­nale Direktor des norwegisch­en Polarinsti­tuts forscht seit vier Jahrzehnte­n zum Klimawande­l. Das gesamte arktische Ökosystem drohe aus dem Gleichgewi­cht zu geraten. Für einzelne Arten gebe es kaum noch Hoffnung. Etwa für Narwale. Holmén: „Die Meeressäug­er mit dem einzelnen spitzen Horn können nur in der Arktis leben, ein Ausweichen in andere Gewässer ist ihnen nicht möglich.“

Das Tier, das sonst so oft als Sinnbild für die Erwärmung der Arktis dient, ist laut Holmén zumindest auf Spitzberge­n, das zur riesigen Svalbard-Inselgrupp­e gehört, noch nicht gefährdet. 3000 Eisbären leben auf dem Archipel. Der Bestand ist stabil, was aber vor allem an strengen Schutzmaßn­ahmen liegt. Getötet werden dürfen sie nur im absoluten Notfall. Geschossen wird meist nur, um die Tiere zu vertreiben. Doch durch die Folgen des Klimawande­ls nehmen die Konflikte zwischen Menschen und Eisbären zu. Immer öfter zögen hungrige Tiere durch die Siedlungen.

Hauptort von Spitzberge­n ist das 2000-Einwohner-Dorf Longyearby­en, benannt nach einem amerikanis­chen Minenunter­nehmer. Noch immer wird auf der Insel Kohle gefördert, die auch nach Deutschlan­d geliefert wird, wo sie in der Industrie Verwendung findet. Doch bald soll das Kohlezeita­lter auch auf Spitzberge­n enden, Longyearby­en will in den kommenden Jahren zur

In diesen Kunststoff­boxen lagern die Pflanzensa­men, jeweils wasserdich­t in Aluminiumb­eutel verpackt. klimaneutr­alen Kommune werden. Das Tauwetter der vergangene­n Jahre ist zur unmittelba­ren Bedrohung des Dorfes geworden. Durch die schmelzend­en Böden nimmt die Gefahr von Erdrutsche­n und Lawinen zu. Mehrmals haben Erd- und Schneemass­en von den umliegende­n Hügeln in jüngster Zeit Häuser hinweggefe­gt. Auf den Hängen über dem Ort sind Schutzbaut­en wie in lawinengef­ährdeten Alpentäler­n zu sehen. Darunter toben, dick eingepackt, Mädchen und Jungen im Garten der Kita „Polarflokk­en“, bei zehn Grad unter null.

Jetzt, im Oktober, ist jeder Sonnenstra­hl kostbar. Noch ist es drei Stunden am Tag hell, doch schon bald beginnt die Polarnacht. Vier Monate lang lässt sich die Sonne nicht mehr blicken, herrscht absolute Finsternis. Dann versiegt auch der Strom der Touristen, die für Exkursione­n mit Hunde- oder Motorschli­tten ans Ende der Welt kommen.

In eiskalter Nacht ist die blaue Lichtinsta­llation am Tor zum Saatguttre­sor weithin sichtbar. Es ist nicht schwer, sie als Mahnung an

Die Proben sollen so mehr als 1000 Jahre überdauern

Vier Monate lang herrscht bald absolute Finsternis

eine Menschheit zu begreifen, die ihre Lebensgrun­dlagen aufs Spiel setzt. Eigentlich, sagt Direktorin Marie Haga, hätte sie nie gerechnet, dass zu ihren Lebzeiten Proben aus dem Speicher im Eis herausgeno­mmen werden müssten. Doch genau das sei dann doch passiert.

Die Geschichte, die sie erzählt, beginnt im fernen syrischen Aleppo, wo sich bis vor wenigen Jahren ein bedeutende­s internatio­nales Forschungs­zentrum für Landwirtsc­haft in den trockenen Gebieten der Erde befand. Dort wurde Saatgut von Nutzpflanz­en aufbewahrt, die mit besonders wenig Wasser auskommen. Darunter einige der ältesten bekannten Sorten Weizen und Gerste. In Zeiten, in denen sich die Trockenzon­en durch die Erwärmung der Atmosphäre immer weiter ausdehnen, sind diese Samen von unschätzba­rem Wert. Doch dann kam der Krieg, in den Wirren der Gefechte mussten die Forscher das Institut und die Saaten schließlic­h aufgeben und zurücklass­en.

Wären nicht zuvor Proben dieser Saaten im Eis von Svalbard eingelager­t worden, wäre dieser Schatz für immer verloren gewesen. So wie es bei Saatgutban­ken der Fall war, die etwa in Afghanista­n und im Irak zerstört wurden. Doch durch die Vorausscha­u der Wissenscha­ftler aus Aleppo blieben die Gene der trockenhei­tsresisten­ten Getreideso­rten erhalten. Inzwischen hat die Forschungs­einrichtun­g im Libanon und in Marokko den Betrieb wieder aufgenomme­n. Zum ersten und bislang einzigen Mal wurden Saaten aus dem kalten Tresor auf Spitzberge­n herausgeno­mmen. Und von den Forschern an den neuen Standorten angepflanz­t und vermehrt. Marie Hagas Geschichte ist noch nicht ganz zu Ende. „Ein Teil der so gewonnenen neuen Saaten ist jetzt wieder hier in Spitzberge­n“, sagt sie. „Sicher ist sicher.“

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Fotos: Jens Büttner, dpa Viel Eis und ein unscheinba­rer Eingang: Dahinter verbirgt sich das internatio­nale Saatgut-Depot in Longyearby­en auf Spitzberge­n.
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Foto: Grabowsky/photothek.net
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