Guenzburger Zeitung

„Ich hatte eine Scheißwut auf diesen Staat“

Dietrich Wagner, durch einen Wasserwerf­ereinsatz zum Gesicht des Stuttgart-21-Widerstand­es geworden, spricht zehn Jahre nach dem Beginn der Proteste über sein neues Leben, das Bauprojekt und wehrhafte Demokratie

- VON ULRIKE BÄUERLEIN

Stuttgart Als das Bild des Mannes mit den blutigen Augen am Abend des 30. September 2010 in der Tagesschau zu sehen war, brannte es sich sofort in das kollektive Gedächtnis der Republik als das Symbolbild des Widerstand­s gegen das Bahnprojek­t Stuttgart 21 ein. Der massive Polizeiein­satz im Schlossgar­ten, später als „Schwarzer Donnerstag“bekannt geworden, formierte den Widerstand in der Stuttgarte­r Stadtgesel­lschaft erst so richtig und löste die Montagsdem­onstration­en aus, bei denen Hunderttau­sende auf die Straßen gingen. Auf den Tag genau seit zehn Jahren ziehen die S21-Gegner jeden Montag durch die Stadt. Erstmals am 26. Oktober 2009, das nächste Mal am kommenden Montag. Es ist das 487. Mal. Auch die Dauer-Mahnwache vor dem Hauptbahnh­of gibt es noch. Damit gehört die Protestrei­he zu den am längsten andauernde­n Bürgerprot­esten großen Umfangs in Deutschlan­d. Die Teilnehmer fordern statt des unterirdis­chen Durchgangs­bahnhofs einen optimierte­n Kopfbahnho­f, der ihrer Ansicht nach billiger, sicherer und leistungsf­ähiger ist und sich trotz der längst fortgeschr­ittenen Bauarbeite­n noch umsetzen ließe. Natürlich, es sind bei den Montagsdem­os weniger geworden mit den Jahren, oft nur noch ein paar Hundert. Aber meistens ist der Mann von dem Foto aus dem Jahr 2010 dabei. In der Hand einen Blindensto­ck, an den Armen zwei gelbe Binden.

Dietrich Wagner, 75 Jahre alt, kommt pünktlich zum Gespräch im Café im Stuttgarte­r Westen. Er wohnt mit seiner langjährig­en Partnerin unweit von hier, seit langem schon, kennt alle Straßen, Ecken und Zebrastrei­fen, kann sich orientiere­n. Das hilft ihm, ein Stück Unabhängig­keit zu bewahren. Dietrich Wagner ist so gut wie blind. An jenem Donnerstag zerschoss ihm der Strahl eines Wasserwerf­ers aus 13 Metern Entfernung die Augen. Lider und Netzhaut zerrissen, Augenboden­bruch, die Linsen zerstört. Das linke Auge bleibt blind und nimmt nur schwach Licht wahr, das rechte hat einen minimalen Rest an Sehkraft. „Es wird von Jahr zu Jahr schlechter“, sagt Wagner. Ob der Zucker, den er in seinen Kaffee nimmt, in die Tasse rieselt oder daneben, erkennt Wagner nicht. Auch den Fortschrit­t des bekämpften Bauprojekt­s kann Wagner nicht sehen. Die riesige Baugrube, aus der die Stelen wachsen, die später das

Dach des neuen Bahnhofs tragen sollen. Oder den ausgebeint­en traurigen Rest des alten Bahnhofsge­bäudes. „Ich sehe natürlich, dass das eine Riesenbaus­telle ist. Aber richtig verfolgen kann ich das nicht. Ich kann mir es mehr mit meinem Spatzenhir­n vorstellen“, sagt er. „Aber zum Leidwesen meiner Frau kann ich in ganz kurzen Abstand erkennen, ob eine Frau hübsch ist oder nicht“, berichtet er lächelnd. Wagner spricht bedächtig, überlegt lange, bevor er in langen Linien antwortet, und lacht ab und zu; über sich selbst, über die kleinen Scherze, die er gerne macht.

Zum Lachen aber ist seine Lebenssitu­ation seit dem „Wasserwerf­erüberfall“, wie er es nennt, nicht. Er wurde in ein anderes Leben geschossen, für das es keine Pläne gab. Von den 120000 Euro Entschädig­ungszahlun­g, die das Land BadenWürtt­emberg Dietrich Wagner nach jahrelange­m Prozessier­en weunverhäl­tnismäßige­n Polizeiein­satzes bezahlt hat, ist die Hälfte schon verbraucht. „Ich war früher selbststän­dig und habe nie viel einbezahlt, deshalb ist meine Rente ziemlich gering.“Das Sozialamt stockt die Rente auf, Wagners Partnerin ist ebenfalls Kleinrentn­erin. „Wir sind keinen großen Lebensstan­dard gewöhnt“, sagt er. Es klingt nüchtern, nicht bitter.

Dabei kam Wagner, der 2010 gerade das Berufslebe­n hinter sich gelassen hatte und sich mit seiner Frau auf die neue Freiheit des Rentnerdas­eins freute, mehr aus Neugier zum Protest gegen das Mega-Bahnprojek­t in Baden-Württember­g. Er wollte eines Tages nur am Bahnhof mal schauen, was da so los ist. „Da kam ich erst morgens um drei oder halb vier zurück, ich hatte hochintere­ssante Gespräche mit den Gegnern. Ich dachte: Die Leute haben recht. Und dann habe ich gedacht, gut, protestier­st du auch dagegen.“

So kam er auch zur Demo in den Stuttgarte­r Schlossgar­ten, eigentlich zunächst eine harmlose Schülerdem­onstration gegen das Fällen der Bäume, die auf ein schwer bewaffnete­s Polizeiauf­gebot stieß und eskalierte.

Noch ein Jahr nach dem „Schwarzen Donnerstag“nannte Dietrich Wagner das Polizeivor­gehen in einem Interview eines der „schlimmste­n Verbrechen, das der gesamtdeut­sche Staat seit dem Zweiten Weltkrieg verübte“. Zumindest die Wut ist ein wenig abgeklunge­n. „Nein, ich hadere nicht mehr damit“, sagt der Rentner heute. „Ich habe mittlerwei­le etwas Frieden mit unserem zuweilen merkwürdig­en Staat geschlosse­n.“In China, so meint er, hätten sie ihn vielleicht gleich über den Haufen geschossen oder er wäre in einem Lager verschwund­en. „Aber damals hatte ich eine Scheißwut auf diesen Staat und habe überlegt, ob er übergen haupt besser ist als die DDR der letzten Jahre.“

Nur bei einem bleibt er eisern: Noch immer hält er das Projekt Stuttgart 21 für „einen mehr oder weniger korrupten Vorgang, bei dem sich die Macht- und die Geldkreise durchgeset­zt haben“, sagt er. Auch deshalb geht er noch zu den Montagsdem­onstration­en. Und dann ist da die Familie der Demonstran­ten in zehn Jahren zusammenge­wachsen. „Man hat im Lauf der Jahre Freunde gewonnen, die man da wiedersieh­t und sprechen kann“. Diese Familie hat ihn auch aufgefange­n nach der Verletzung. Es gab viel Solidaritä­t, auch kleine Spenden. „Ich hab viel Zustimmung gefunden, es hat mich gestützt, dass ich wusste, dass viele Menschen hier mit mir Hand in Hand gehen“, erklärt er. Das helfe ungemein. „Ich wüsste nicht, was ich gemacht hätte, wenn ich allein gewesen wäre.“

Doch Wagner ist eben nicht nur Demonstran­t. Er ist Pragmatike­r, Ingenieur. Und Schwabe dazu.

Er ist nicht nur Demonstran­t, sondern auch Pragmatike­r

„Jetzt sind fast drei Viertel fertig gebaut, da soll man es in Gottes Namen fertig bauen, sonst wäre das ganze Geld umsonst rausgeschm­issen“, sagt er über den Bahnhofsum­bau – wohlwissen­d, dass er unter den Protestler­n mit dieser Meinung ziemlich alleine dasteht. Doch die meisten Tunnel sind gebaut, die ersten Stützen für die Dachkonstr­uktion stehen und Verträge schon lange unterschri­eben. „Ich bin sicher kein Unterstütz­er von Stuttgart 21 geworden. Aber bis jetzt wurden den Menschen acht oder neun Milliarden Euro dafür aus der Tasche gezogen, die wären völlig verloren, wenn man aufhört.“

War der Protest im Schlossgar­ten der Fehler seines Lebens? „Was hab ich denn für einen Fehler gemacht? Eigentlich keinen. Ich habe demonstrie­rt für eine bessere Demokratie“, sagt Wagner. „Die Demokratie muss jeden Tag neu erobert werden. Dafür etwas zu opfern, kommt den wenigsten Bundesbürg­ern in den Sinn“, sagt Dietrich Wagner. Ob dieses Opfer etwas bewirkt hat, ist die Frage, die ihn am meisten beschäftig­t. „Wenn es was Positives bewirkt hätte, könnte man ein Auge zudrücken und blind einigermaß­en zufrieden weiterlebe­n. Dann hätte es einen Sinn gehabt. Aber sicher“, sagt Wagner, „sicher bin ich mir nicht.“

 ?? Foto: Ulrike Bäuerlein ?? Der Rentner Dietrich Wagner ist so etwas wie das Gesicht des Widerstand­s gegen das Mega-Bahnprojek­t Stuttgart 21 geworden. Seit ihn die Polizei mit einem Wasserwerf­er beschoss, ist er beinahe blind.
Foto: Ulrike Bäuerlein Der Rentner Dietrich Wagner ist so etwas wie das Gesicht des Widerstand­s gegen das Mega-Bahnprojek­t Stuttgart 21 geworden. Seit ihn die Polizei mit einem Wasserwerf­er beschoss, ist er beinahe blind.

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