Guenzburger Zeitung

Die Schattenwe­lt der Pflegemafi­a

Die Kripo hat in Augsburg ein Netzwerk aufgedeckt, das für einen Millionenb­etrug in der Pflegebran­che verantwort­lich sein soll. Warum stammen viele Verdächtig­e aus Osteuropa?

- VON JÖRG HEINZLE UND INA MARKS

Augsburg Als der Mann sich bei seinem russischen Pflegedien­st in Augsburg beschwerte, dass Leistungen abgerechne­t wurden, die er gar nicht erhalten hat, soll er plötzlich ein Messer vor sich gesehen haben. Er wurde bedroht. Es ist ein paar Jahre her, dass sich diese Szene abgespielt haben soll, erzählt Eckard Rasehorn. Doch solche Berichte zeigen, was man der Pflegemafi­a zutraut – und wohl auch zutrauen muss. Rasehorn ist seit über 30 Jahren in der Branche und hört viel. Daher überrascht den Geschäftsf­ührer der Arbeiterwo­hlfahrt in Augsburg der aktuelle Skandal nicht.

Bei einer Großrazzia hat die Polizei am Mittwoch in Augsburg rund 170 Firmen- und Privaträum­e durchsucht. Acht Pflegedien­ste in der Stadt stehen unter Verdacht, betrogen zu haben. Sie sollen Leistungen abgerechne­t haben, die gar nicht erbracht worden sind. Patienten sollen auf dem Papier deutlich kränker gewesen sein, als sie es in Wirklichke­it sind. In manchen Fällen sollen offenkundi­g gesunde Menschen in den Dokumenten zu Pflegebedü­rfti„gemacht“worden sein. Beteiligt an dem mutmaßlich­en Millionenb­etrug sind vor allem Menschen, die aus Osteuropa nach Deutschlan­d gezogen sind oder zumindest ihre Wurzeln dort haben.

Einen Betrugsska­ndal in dieser Dimension kannte Pflege-Experte Rasehorn bis jetzt nicht. Vermutet hat der 62-Jährige aber schon lange, dass vieles falsch läuft. „Man weiß seit Jahren, dass bei manchen Diensten nicht nur etwas getrickst, sondern systematis­ch betrogen wird.“Rasehorn spricht von einer russischen Pflegemafi­a, die pflegebedü­rftige Menschen nur unter dem Gesichtspu­nkt betrachte, was man finanziell heraushole­n könne.

„Es sind die russischen Pflegedien­ste, die kein Unrechtsbe­wusstsein haben“, sagt der 62-Jährige. Eine genaue Erklärung hat er nicht, warum es sich bei den Tatverdäch­tigen ausgerechn­et um russischst­ämmige Menschen handelt. „Ich erkläre es mir so, dass man in Russland gelernt hat, sich an der Staatsmach­t vorbei zu organisier­en.“Diese Klientel sei nach Deutschlan­d gekommen, um hier Geschäfte zu machen. „Der systematis­che Betrug ist ja nicht typisch für Augsburg oder

München. Diese Mafiastruk­tur gibt es auch in anderen Städten.“Es sei ein Netz von Mitarbeite­rn, Pflegebedü­rftigen, Angehörige­n und auch russischsp­rachigen Ärzten, die miteinande­r Deals machten. Das große Geld kassieren dabei die Drahtziehe­r. Bei einem Augsburger Pflegedien­st-Chef lagen drei Millionen Euro in bar, gebunkert in der Wohnung. Beteiligte Patienten, oftmals Sozialhilf­eempfänger, wurden dagegen mit eher kleinen Beträgen von 20 bis 130 Euro im Monat abgespeist – oder mit Gefälligke­iten wie Fahrten zum Friseur und zum Einkauf.

In Augsburg hat die Kripo 68 Beschuldig­te im Visier, einen Mediziner, 40 überwiegen­d führende Köpfe von Pflegedien­sten und 27 Patienten. Neun Verdächtig­e sitzen in Haft, weitere vier Inhaftiert­e kommen aus München. Rasehorn sagt: „Das ist eine Welt für sich, die sich abschottet. Wenn man da nicht mit verdeckten Ermittlern arbeitet oder Telefonate überwacht, kommt man den Betrügern nicht bei.“Oft würgen den die schwarzen Schafe unter den Pflegedien­sten auch Druck auf die Klienten ausüben. Das muss nicht gleich das gezückte Messer sein. Rasehorn berichtet von einem Klienten, der einen Gehwagen zur Verfügung bekam. Als er den Dienst wechseln wollte, sei ihm gedroht worden, dass man ihm das Gefährt nachträgli­ch für ein Jahr berechne.

Die russisch dominierte­n Pflegedien­ste seien ein „Schloss mit sieben Siegeln“, sagt Klaus Kneißl, Sozialplan­er der Stadt Augsburg. Die alten Menschen, in einem kommunisti­schen Staat sozialisie­rt, wüssten oft nicht, dass sie hier in Deutschlan­d Wahlfreihe­it bei Pflegedien­sten haben. Sie hielten sich etwa streng dran, was der Arzt empfehle – auch bei der Wahl des Pflegedien­sts. Und: „In ihrer alten Heimat mussten sie den Staat betrügen, um zu überleben.“Sie seien dieses System gewöhnt und übertragen es teils ohne Gewissensb­isse nach Deutschlan­d. Fachleute in Augsburg beobachten auch, dass sich die Pflegemafi­a zu anderen Gruppen in der Gesellscha­ft hin ausbreitet. So gebe es Dienste, die gezielt um Türkischst­ämmige werben. Die Betreiber seien teils aber „alte Bekannte“.

Patienten wurden mit kleinen Beträgen abgespeist

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