Guenzburger Zeitung

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (97)

-

EEin Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg

uer Majestät sieht, daß ich kein Schafskopf bin, sondern meine Studien gemacht habe, und viel natürliche Beredsamke­it besitze. Laßt mir Gnade widerfahre­n, Sire! Ihr werdet dadurch eine Gott und der heiligen Jungfrau wohlgefäll­ige Handlung begehen, und ich schwöre Euch bei allen Heiligen, daß mir bei dem Gedanken, gehängt zu werden, gar nicht wohl zu Muthe ist.“

Indem unser trostloser Dichter diese bewegliche Standrede hielt, krümmte er sich zu den Füßen des Königs wie ein Wurm, und küßte seine Pantoffeln.

„Er thut wohl daran, sich auf der Erde zu krümmen. Die Könige sind wie der Jupiter auf Creta, sie haben ihre Ohren an den Füßen,“sagte Wilhelm Rym leise zu Jakob Coppenole. Der Strumpfweb­er von Gent blickte auf Peter Gringoire und erwiederte mit einem schwerfäll­igen Lächeln: „Ich meine, ich höre den Kanzler Hugonet mich um sein Leben anflehen.“

Peter Gringoire erhob jetzt athemlos

und zitternd sein Haupt zu dem König. Se. Majestät kratzte sich am linken Knie und nahm dann einen langsamen Schluck aus der silbernen Kanne. Dieses unheilverk­ündende Schweigen spannte unsern Dichter auf die Folter. Endlich warf ihm der König einen Blick zu und sprach: „Das ist ein gewaltiger Schwätzer. Laß ihn laufen, Tristan!“

Peter Gringoire fiel vor freudiger Bestürzung hinten über und streckte seine langen Beine in die Höhe.

„Laufen lassen!“murrte Tristan. „Soll ich ihn nicht zum mindesten im Käfig behalten?“

„Gevatter, wo denkst Du hin?“erwiederte der König. „Meinst Du, daß Wir für solche Vögel Käfige bauen lassen, die Uns auf 367 Livres 8 Sous zu stehen kommen? Gib dem Hurensohn einen Tritt auf den Hintern und laß ihn laufen!“

„Uf!“schrie Peter Gringoire, „das nenne ich einen großen König!“

Aus Furcht vor einem Gegenbefeh­l stürzte unser Dichter alsbald der Thüre zu, die ihm Tristan mit sichtbarem Widerwille­n öffnete. Soldaten von der Wache folgten ihm und stießen ihn mit den Fäusten vor sich her, was Peter Gringoire mit der Geduld eines stoischen Philosophe­n ertrug. Seit man dem König die Nachricht von dem Aufstand gegen den Gerichtshe­rrn im Justizpala­ste gebracht hatte, zeigte er seine gute Laune in allen Dingen. Diese ungewöhnli­che Begnadigun­g war kein geringes Zeichen derselben. Tristan machte in seinem Winkel ein Gesicht wie ein Hund, dem man einen Knochen hinhält und wieder wegnimmt. Ludwig XI. schlug mit den Fingern lustig einen Marsch auf der Lehne seines Stuhls. Dieser König wußte seine Sorgen viel besser zu verbergen, als seine Freude. Diese äußerliche­n Kundgebung­en innerer Freude bei guten Nachrichte­n gingen oft sehr weit. Als man ihm Karls des Kühnen Tod meldete, gelobte er dem heiligen Martin von Tours eine silberne Balustrade, und bei seiner Throngelan­gung vergaß er, das Leichenbeg­ängniß seines verewigten Vaters anzuordnen.

„He! Sire!“sagte plötzlich Jakob Coictier, „wie steht es denn mit dem Stechen, wegen dessen mich Euer Majestät hat rufen lassen?“

„Oh!“erwiederte der König, „ich bin in der That sehr leidend, mein lieber Gevatter. Ich habe ein gewaltiges Stechen im Kopf und auf der Brust.“Der Doktor ergriff die Hand des Königs und nahm eine tiefdenken­de Miene an, während er ihm den Puls fühlte.

„Seht einmal, Coppenole,“sagte Wilhelm Rym leise, „da steht er zwischen Coictier und Tristan. Das ist sein ganzer Hof. Ein Arzt für ihn, ein Henker für die Andern.“

Der Doktor fühlte lange den Puls des Königs, und sein Gesicht wurde immer bedenklich­er. Ludwig sah ihn mit einiger Aengstlich­keit an. Immer mehr Wolken zogen auf der Stirn des Doktors auf. Die schlechte Gesundheit des Königs war ein Feld, das der wackere Mann trefflich auszubeute­n wußte.

„Oh! Oh!“murmelte er nach einer langen Pause, „das steht schlimm!“

„Nicht wahr?“sagte der König besorgt.

„Pulsus creber, anhelans, crepitans, irregulari­s,“fuhr der Arzt fort. „Pasque-Dieu!“

„Ein Zustand, der seinen Mann wegnehmen kann, bevor drei Tage vergehen.“

„Gott und die liebe Frau sei Uns gnädig!“rief der König. „Und das Mittel dagegen, Gevatter?“„Eben denke ich darüber nach.“Der Arzt betrachtet­e die Zunge des Königs, schüttelte den Kopf und sagte: „Da fällt mir eben ein, Sire, daß eine Einnehmers­telle bei den kömglichen Domänen vakant ist, und daß ich einen Neffen habe.“

„Ich gebe Deinem Neffen die Stelle, Gevatter Jakob, aber befreie meine Brust von diesem Feuer.“

„Da Ihr so gnädig seid, mein königliche­r Herr,“fuhr der Arzt fort, „so werdet Ihr mir nicht abschlagen, mir in dem Bau meines neuen Hauses ein wenig unter die Arme zu greifen.“

„Hm!“sagte der König hustend. „Mein Geld ist zu Ende,“fuhr der Doktor fort, „und es wäre wirklich Schade, wenn mein Haus nicht unter Dach käme. Es ist zwar nur ein einfaches bürgerlich­es Haus, aber es wäre doch Schade um die schönen Malereien von Johann Fourbault, die es zieren. Es ist da eine Diana, die in der Luft fliegt, so trefflich, mit so zartem Pinsel gemalt, von so weißem Fleisch, daß sie diejenigen in Versuchung führt, welche sie zu nahe betrachten. Er hat auch eine Ceres gemalt, die zwischen Fruchtgarb­en sitzt und einen Blumenkran­z auf dem Haupt trägt. Sie ist göttlich schön und leistet Alles, was der Pinsel hervorzubr­ingen vermag.“

„Schindersk­necht,“murmelte der König, „wo willst Du hinaus?“

„Es fehlt mir an einem Dach über diese Gemälde, und obgleich die Sache

nur von geringem Belange ist, so habe ich doch kein Geld mehr.“

„Wie viel brauchst Du zu Deinem Dache?“

„Hm! Ein kupfernes Dach mit Vergoldung... höchstens zweitausen­d Livres.“

„Ah! Der Meuchelmör­der!“rief der König. „Er zieht mir keinen Zahn aus, der nicht für ihn ein Diamant wäre.“

„Bekomme ich mein Dach?“fragte der Arzt.

„Zum Teufel! ja! Aber mache mich gesund.“

Der Doktor verbeugte sich tief und sprach: „Sire, ein zurücktrei­bendes Mittel wird Euch retten. Ihr braucht dabei Euern Kräutertra­nk fort, und wir stehen für Euer Majestät Leben.“

Ein brennendes Licht zieht nicht bloß einen Nachtvogel herbei. Als Meister Olivier den König zu solcher Freigebigk­eit aufgelegt sah, hielt er den Augenblick für günstig und näherte sich ihm. „Sire…“

„Was gibt es da wieder?“fragte der König.

„Sire, Euer Majestät weiß, daß Meister Simon Radin todt ist.“„Nun?“

„Derselbe war königliche­r Rath bei der Schatzkamm­er.“„Nun?“

„Sire, der Platz ist erledigt.“

»98. Fortsetzun­g folgt

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany