Arm im reichen Bayern
Armut hat viele Gesichter. Sie betrifft Menschen, die eine Arbeit haben, genauso wie Rentner oder Obdachlose. Wie sich die Sin im Freistaat entwickelt hat, welche Vorwürfe sich die Politik gefallen lassen muss und wie es sich so lebt, wenn man ganz unten
In immer mehr Großstädten werden die Unterkünfte für Obdachlose knapp
Ganz unten. Dort sei er. An einem Punkt, an dem er oft denkt, ob es nicht besser wäre, gar nicht mehr da zu sein. Lange Zeit wollte er wirklich nicht mehr leben. Damals, 2012. Als seine geliebte Frau so schnell an Krebs gestorben ist. Doch der 65-Jährige hat vier Kinder, neun Enkelkinder, zwei Urenkel. Erzählt er von seiner Familie, huscht ein Lächeln über sein Gesicht. Und er hat noch etwas, was ihn hält. Wer seine kleine Wohnung betritt, bleibt staunend stehen. Bilder. Farbenfrohe, fantastische, große Gemälde schmücken die Wände, stapeln sich im Flur. Der Rentner, dem nur knapp 400 Euro im Monat zum Leben bleiben, malt, wann immer es seine starken Knochenschmerzen zulassen. „Wenn ich male, explodiert etwas in mir“, sagt er, und seine Begeisterung ist sichtbar: Der schmale, so gebrechlich wirkende Mann richtet sich auf seinem Sofa auf, wirkt viel lebendiger, freudiger. „Doch in den vergangenen Monaten habe ich nichts mehr gemalt“, fügt er an. „Die Schmerzen sind zu stark.“
Eine schwere Osteoporose bewirkt nicht nur die Schmerzen, sie lässt seine Wirbel bei der kleinsten Bewegung brechen. An eine regelmäßige Arbeit ist nicht mehr zu denken. „Ich war staatlich anerkannter freischaffender Kunstmaler“, erzählt er. Und immer wieder arbeitete er als Angestellter. Doch das Jahr 2011 war eine harte Zäsur. Zuerst kam die Diagnose Lungenkrebs bei seiner Frau. Im gleichen Jahr wurde ihnen ihr Haus mit Atelier gekündigt. Nach dem Tod seiner Frau ging es für ihn vor allem abwärts. Als er kürzlich beim Übergang von den Jobcenter-Bezügen zu seiner winzigen Rente die Miete nicht mehr bezahlen konnte, unterstützte ihn die Kartei der Not, das Leserhilfswerk unserer Zeitung. Hat er vielleicht einfach zu wenig vorgesorgt? „Das Finanzielle hat immer meine Frau gemacht“, sagt er, schaut in den Boden und ergänzt nach einer Pause leise: „Dass es so schlimm kommt, damit habe ich einfach nicht gerechnet.“
So wie dem Rentner geht es vielen Menschen im Freistaat. Armut ist im reichen Bayern keine Seltenheit. Hunderttausende Menschen müssen mit extrem wenig Geld über die Runden kommen. Die Zahlen der Statistiker zeigen, wer besonders betroffen ist: Arbeitslose. Alte Menschen. Alleinerziehende. Migranten – vor allem mit mehreren Kindern. Und Menschen ohne Berufsausbildung. Wie geht es diesen Menschen? Wie leben sie? Können sie sich die immer teureren Mieten im Freistaat überhaupt noch leisten? Und: Wer hilft ihnen eigentlich?
Weltweite Beachtung hat das Thema Armut jüngst bei der Vergabe der Nobelpreise erfahren: Die diesjährige Auszeichnung im Bereich Wirtschaft haben drei Armutsforscher erhalten. In Bayern allerdings wird über Bedürftigkeit nicht gern geredet, das Ganze sei oft ein Tabu-Thema, findet Thomas Beyer, Professor für Recht in der sozialen Arbeit und Chef der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Bayern: „Die bayerische Politik macht um das Thema Armut einen auffallend großen Bogen. Frei nach dem Motto: Wir reden nicht darüber, dann gibt es sie auch nicht. Damit leugnet die bayerische Regierung die Realität.“Mit Blick auf die Zahlen aus der Statistik kommt Beyer zu dem Schluss: „Die Zahl der Armen steigt in Bayern signifikant an.“Nach seinen Berechnungen hat sie im Zeitraum zwischen 2011 und 2018 um 15 Prozent zugelegt. „Etwa 1,8 Millionen Menschen in Bayern sind armutsgefährdet. Armut betrifft nicht nur Randgruppen. Armut findet sich in der Mitte unserer Gesellschaft.“Da reiche es nicht, dass die Staatsregierung vor kurzem eine Stiftung Obdachlosenhilfe Bayern beschlossen hat, die ihren Sitz in Augsburg haben soll.
Doch wann ist ein Mensch eigentlich arm? Als arm gilt, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. „Grundsätzlich gilt in Bayern eine alleinstehende Person unter einem Nettoeinkommen von 1040 Euro als armutsgefährdet“, erklärt Beyer. Kritisch sieht er vor allem auch Hartz IV: „Das Problem ist, dass die Grundsicherung nicht wirklich existenzsichernd ist. Wer in Grundsicherung lebt, hat ein 80-prozentiges Armutsrisiko.“Beyer, der früher für die SPD im Landtag gesessen ist, fordert seit langem nicht nur eine verlässliche Altersabsicherung, die ein auskömmliches Leben garantiert, sondern vor allem eine eigene Grundsicherung für Kinder. „Armut grenzt immer aus – unabhängig von der Altersgruppe“, betont der Jurist. „Aber besonders hart trifft Armut oft Kinder – zumal in einem reichen Land wie Bayern.“
Das bestätigt Kati Wimmer, Vorsitzende des Kinderschutzbundes Buchloe. „Armut hat vielfältige Auswirkungen auf Kinder.“Die Betroffenen hätten oft nicht die gleichen Chancen wie andere. Der erlebte Mangel sei zudem oft mit Scham verbunden. Sie weiß von Kindern, die bei einer anstehenden Klassenfahrt einfach krank gemeldet werden, weil das Geld fehlt. „Armut kann zu traumatisierenden Erlebnissen führen“, meint die Vorsitzende.
So erinnert sich eine heute 56-jährige Buchloerin, wie sie vor zehn Jahren mit ihrer damals zehnjährigen Tochter durch Trennung und Krankheit zur Hartz-IV-Bezieherin wurde. „Ich hatte für zwei Wochen manchmal nur noch 20 Euro. Meine Tochter hatte ein paar Mal Angst, dass wir nichts mehr zum Essen haben werden.“Sie habe dann viel mit dem Mädchen geredet, um ihr die Ängste zu nehmen. Die 56-Jährige leidet bis heute an Rheuma und starken Muskelschmerzen, die dazu führen, dass sie an manchen Tagen die Wohnung nicht verlassen kann. „An Arbeit war nicht zu denken“, sagt sie. Dankbar ist sie bis heute Freunden, die ihr und der Tochter ohne große Worte von Zeit zu Zeit eine Tasche mit Lebensmitteln brachten. „Ich war zudem so dankbar, dass es in Buchloe eine Einrichtung wie die Tafel gibt.“Dort gab es auch Obst und Gemüse. „Man kann doch nicht nur von Spiegeleiern und Spaghetti leben.“
Die Buchloerin bekam damals für sich, ihre Tochter und für die Miete vom Staat rund 1000 Euro im Monat. „So mancher sagt dann: Das ist doch viel Geld.“540 Euro gingen für die Wohnung drauf, 60
Euro für Strom, 40 Euro für die Busfahrkarte der Tochter, 40 Euro für Telefon. Bleiben 320 Euro. „Ich rate denen, die meinen, dass das genug ist, mal eine Weile einen Monat lang zu zweit von 320 Euro zu leben.“Heute geht es der Frau zumindest finanziell wieder gut. Die zwei Jahre, die sie aber als Hartz-IV-Bezieherin verbrachte, seien eine „verdammt harte Zeit“gewesen.
Alleinerziehend und Hartz IV: Das ist gar nicht selten. Beispiel Kaufbeuren: Im Juni gab es dort insgesamt 1133 sogenannte Bedarfsgemeinschaften (wobei eine Bedarfsgemeinschaft auch aus einer alleinstehenden Person bestehen kann) – 204 davon waren Alleinerziehende, wie Helmut Hacker von der Stadt Kaufbeuren mitteilt.
Doch auch, wenn man arbeitet, heißt das nicht unbedingt, dass man von Armut verschont bleibt. Große Sorge bereitet dem bayerischen AWO-Chef Beyer „die massive Zunahme an Geschäftsmodellen, die auf Minilöhnen basieren“. Er nennt als Beispiel die Logistik, die Paketzusteller etwa, die Servicebranche. Genau da, im Service, arbeitet der 35-jährige Familienvater, der am frühen Morgen in die Redaktion kommt, um seine Geschichte zu erzählen. Der gelernte Einzelhandelskaufmann ist gebürtiger Augsburger. Er arbeitet im Schichtdienst als Vollzeitkraft im Servicebereich. Dank der Feiertags- und Sonntagszuschläge kommt er im Schnitt auf 1900 Euro netto. „Ich weiß, das hört sich nicht nach wenig an“, sagt er. „Aber allein für unsere 76 Quadratmeter große Wohnung zahlen wir knapp 1000 Euro.“Dabei sind die drei Zimmer für die sechs und vier Jahre alten Töchter und den drei Monate alten Sohn auf Dauer zu klein. „Doch die wahnsinnig hohen Mieten in Augsburg sind das größte Problem.“Sie erhalten Zuschüsse wie Eltern- und Kindergeld. „Aber es ist alles total auf Kante genäht. Vor allem kann ich nichts zurücklegen“, erklärt er. „Im Gegenteil.
Seitdem wir einmal ins Minus auf unser Konto gerutscht sind, kommen wir nicht mehr Plus. Es geht einfach nicht.“Die Beratungsstelle Familia habe ihm geraten, Wohngeld zu beantrag Als arm würden einige ihn und seine Familie vi leicht nicht einschätzen. „Doch ohne all die Fina hilfen vom Staat würde es nicht gehen – und das doch ein Armutszeugnis, wenn der Lohn nicht z Leben reicht.“Hinzu komme: „Die meisten mei Kollegen verdienen wesentlich weniger als ich. Schnitt nur 1100 Euro. Die arbeiten aber auch Vollzeit“, sagt er, schüttelt den Kopf und ergän „Mein Vater kam damals als Gastarbeiter nach Au burg und war in einem großen Konzern beschäfti Er hat sechs Kinder ernährt, meine Mutter ging arbeiten und wie stehe ich heute da? An meine Re darf ich gar nicht denken.“
An die Rente, das Alter, die Zukunft, wird w auch Thomas M. nicht gerne denken. Denn se Aussichten sind düster. Thomas M. – der eigentl anders heißt – sitzt an diesem kalten, grauen Ok bernachmittag in der Münchner Bahnhofsmission seiner Hand hält er eine dampfende Tasse Tee u ein Margarinebrot. M., ein großer, schlanker Ma der einen blauen Parka und eine rote Mütze trägt, obdachlos. Nachts schläft er mit vielen ande Menschen in der ehemaligen Bayernkaserne, ta über streunt er durch die Straßen der Landeshau stadt, sucht nach weggeworfenen Klamotten, die gebrauchen kann. „Eben habe ich dieses Sweatsh gefunden. Wie neu“, sagt er und nimmt ein Schluck Tee. Er will nicht so recht erzählen, wie so tief abrutschen konnte. Nur so viel: Thomas hatte früher einen Job als Leiharbeiter. Doch als irgendwann seine Arbeit verlor, konnte er die Mi für seine Wohnung nicht mehr bezahlen. Geld v Staat wollte er nicht – also landete er auf der Stra
Nun könnte man denken, Menschen wie Thom
sind bedauernswerte Einzelfälle. Die Sache sieht rdings anders aus. In immer mehr bayerischen oßstädten werden Unterkünfte für Obdachlose pp – und das, obwohl die Zahl der Schlafstätten den vergangenen Jahren vielerorts erhöht wurde. München ist die Situation besonders dramatisch. t 2011 hat sich dort die Zahl der Obdachlosen verifacht. „Die Luft wird immer dünner, München einfach sehr teuer“, sagt Bettina Spahn, eine von ei Leiterinnen der Münchner Bahnhofsmission, übrigens eine der größten Einrichtungen dieser in ganz Deutschland ist. Es ist ein Ort, an dem tlich wird, wie groß das soziale Gefälle – gerade der reichen Landeshauptstadt – ist. Da sitzen nschen mit zerschlissenen Schuhen und schmuten Jacken, Menschen, die mit enorm wenig Geld kommen müssen. Und nur wenige Meter entfernt ht eines von Münchens schicksten Luxushotels, der U-Bahn sind es nur drei Minuten zum Marilatz mit seinen teuren Geschäften.
Etwa 300 Menschen kommen am Tag in der hnhofsmission an Gleis 11 des Münchner Hauptnhofs vorbei, wärmen sich auf, bekommen etwas essen und zu trinken. Frauen und Kinder können ar übernachten. „Bei den Menschen ist eine groseelische Belastung spürbar, es gibt wenig Halt in em Leben“, sagt Spahn.
Halt – den hat auch Thomas M. verloren. Aber er sucht sich durchzuschlagen. Der Obdachlose hat hrere große Tüten mit gesammelten Pfandflaen dabei, vier oder fünf Euro dürften das sein, int er und schiebt seine rote Mütze aus dem Geht. Von dem Geld wird er sich später noch ein endessen kaufen. Einen Yoghurt. Ein Glas Boh. Und einen Puszta-Salat. Wenn es dunkel ist, n wird er in die Bayernkaserne zurückkehren d sich in sein Stockbett legen. Thomas M.s Leben ein schweres. Thomas M. ist ganz unten.