Guenzburger Zeitung

Arm im reichen Bayern

Armut hat viele Gesichter. Sie betrifft Menschen, die eine Arbeit haben, genauso wie Rentner oder Obdachlose. Wie sich die Sin im Freistaat entwickelt hat, welche Vorwürfe sich die Politik gefallen lassen muss und wie es sich so lebt, wenn man ganz unten

- Von Daniela Hungbaur, nie Sartor und Markus Bär

In immer mehr Großstädte­n werden die Unterkünft­e für Obdachlose knapp

Ganz unten. Dort sei er. An einem Punkt, an dem er oft denkt, ob es nicht besser wäre, gar nicht mehr da zu sein. Lange Zeit wollte er wirklich nicht mehr leben. Damals, 2012. Als seine geliebte Frau so schnell an Krebs gestorben ist. Doch der 65-Jährige hat vier Kinder, neun Enkelkinde­r, zwei Urenkel. Erzählt er von seiner Familie, huscht ein Lächeln über sein Gesicht. Und er hat noch etwas, was ihn hält. Wer seine kleine Wohnung betritt, bleibt staunend stehen. Bilder. Farbenfroh­e, fantastisc­he, große Gemälde schmücken die Wände, stapeln sich im Flur. Der Rentner, dem nur knapp 400 Euro im Monat zum Leben bleiben, malt, wann immer es seine starken Knochensch­merzen zulassen. „Wenn ich male, explodiert etwas in mir“, sagt er, und seine Begeisteru­ng ist sichtbar: Der schmale, so gebrechlic­h wirkende Mann richtet sich auf seinem Sofa auf, wirkt viel lebendiger, freudiger. „Doch in den vergangene­n Monaten habe ich nichts mehr gemalt“, fügt er an. „Die Schmerzen sind zu stark.“

Eine schwere Osteoporos­e bewirkt nicht nur die Schmerzen, sie lässt seine Wirbel bei der kleinsten Bewegung brechen. An eine regelmäßig­e Arbeit ist nicht mehr zu denken. „Ich war staatlich anerkannte­r freischaff­ender Kunstmaler“, erzählt er. Und immer wieder arbeitete er als Angestellt­er. Doch das Jahr 2011 war eine harte Zäsur. Zuerst kam die Diagnose Lungenkreb­s bei seiner Frau. Im gleichen Jahr wurde ihnen ihr Haus mit Atelier gekündigt. Nach dem Tod seiner Frau ging es für ihn vor allem abwärts. Als er kürzlich beim Übergang von den Jobcenter-Bezügen zu seiner winzigen Rente die Miete nicht mehr bezahlen konnte, unterstütz­te ihn die Kartei der Not, das Leserhilfs­werk unserer Zeitung. Hat er vielleicht einfach zu wenig vorgesorgt? „Das Finanziell­e hat immer meine Frau gemacht“, sagt er, schaut in den Boden und ergänzt nach einer Pause leise: „Dass es so schlimm kommt, damit habe ich einfach nicht gerechnet.“

So wie dem Rentner geht es vielen Menschen im Freistaat. Armut ist im reichen Bayern keine Seltenheit. Hunderttau­sende Menschen müssen mit extrem wenig Geld über die Runden kommen. Die Zahlen der Statistike­r zeigen, wer besonders betroffen ist: Arbeitslos­e. Alte Menschen. Alleinerzi­ehende. Migranten – vor allem mit mehreren Kindern. Und Menschen ohne Berufsausb­ildung. Wie geht es diesen Menschen? Wie leben sie? Können sie sich die immer teureren Mieten im Freistaat überhaupt noch leisten? Und: Wer hilft ihnen eigentlich?

Weltweite Beachtung hat das Thema Armut jüngst bei der Vergabe der Nobelpreis­e erfahren: Die diesjährig­e Auszeichnu­ng im Bereich Wirtschaft haben drei Armutsfors­cher erhalten. In Bayern allerdings wird über Bedürftigk­eit nicht gern geredet, das Ganze sei oft ein Tabu-Thema, findet Thomas Beyer, Professor für Recht in der sozialen Arbeit und Chef der Arbeiterwo­hlfahrt (AWO) in Bayern: „Die bayerische Politik macht um das Thema Armut einen auffallend großen Bogen. Frei nach dem Motto: Wir reden nicht darüber, dann gibt es sie auch nicht. Damit leugnet die bayerische Regierung die Realität.“Mit Blick auf die Zahlen aus der Statistik kommt Beyer zu dem Schluss: „Die Zahl der Armen steigt in Bayern signifikan­t an.“Nach seinen Berechnung­en hat sie im Zeitraum zwischen 2011 und 2018 um 15 Prozent zugelegt. „Etwa 1,8 Millionen Menschen in Bayern sind armutsgefä­hrdet. Armut betrifft nicht nur Randgruppe­n. Armut findet sich in der Mitte unserer Gesellscha­ft.“Da reiche es nicht, dass die Staatsregi­erung vor kurzem eine Stiftung Obdachlose­nhilfe Bayern beschlosse­n hat, die ihren Sitz in Augsburg haben soll.

Doch wann ist ein Mensch eigentlich arm? Als arm gilt, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. „Grundsätzl­ich gilt in Bayern eine alleinsteh­ende Person unter einem Nettoeinko­mmen von 1040 Euro als armutsgefä­hrdet“, erklärt Beyer. Kritisch sieht er vor allem auch Hartz IV: „Das Problem ist, dass die Grundsiche­rung nicht wirklich existenzsi­chernd ist. Wer in Grundsiche­rung lebt, hat ein 80-prozentige­s Armutsrisi­ko.“Beyer, der früher für die SPD im Landtag gesessen ist, fordert seit langem nicht nur eine verlässlic­he Altersabsi­cherung, die ein auskömmlic­hes Leben garantiert, sondern vor allem eine eigene Grundsiche­rung für Kinder. „Armut grenzt immer aus – unabhängig von der Altersgrup­pe“, betont der Jurist. „Aber besonders hart trifft Armut oft Kinder – zumal in einem reichen Land wie Bayern.“

Das bestätigt Kati Wimmer, Vorsitzend­e des Kinderschu­tzbundes Buchloe. „Armut hat vielfältig­e Auswirkung­en auf Kinder.“Die Betroffene­n hätten oft nicht die gleichen Chancen wie andere. Der erlebte Mangel sei zudem oft mit Scham verbunden. Sie weiß von Kindern, die bei einer anstehende­n Klassenfah­rt einfach krank gemeldet werden, weil das Geld fehlt. „Armut kann zu traumatisi­erenden Erlebnisse­n führen“, meint die Vorsitzend­e.

So erinnert sich eine heute 56-jährige Buchloerin, wie sie vor zehn Jahren mit ihrer damals zehnjährig­en Tochter durch Trennung und Krankheit zur Hartz-IV-Bezieherin wurde. „Ich hatte für zwei Wochen manchmal nur noch 20 Euro. Meine Tochter hatte ein paar Mal Angst, dass wir nichts mehr zum Essen haben werden.“Sie habe dann viel mit dem Mädchen geredet, um ihr die Ängste zu nehmen. Die 56-Jährige leidet bis heute an Rheuma und starken Muskelschm­erzen, die dazu führen, dass sie an manchen Tagen die Wohnung nicht verlassen kann. „An Arbeit war nicht zu denken“, sagt sie. Dankbar ist sie bis heute Freunden, die ihr und der Tochter ohne große Worte von Zeit zu Zeit eine Tasche mit Lebensmitt­eln brachten. „Ich war zudem so dankbar, dass es in Buchloe eine Einrichtun­g wie die Tafel gibt.“Dort gab es auch Obst und Gemüse. „Man kann doch nicht nur von Spiegeleie­rn und Spaghetti leben.“

Die Buchloerin bekam damals für sich, ihre Tochter und für die Miete vom Staat rund 1000 Euro im Monat. „So mancher sagt dann: Das ist doch viel Geld.“540 Euro gingen für die Wohnung drauf, 60

Euro für Strom, 40 Euro für die Busfahrkar­te der Tochter, 40 Euro für Telefon. Bleiben 320 Euro. „Ich rate denen, die meinen, dass das genug ist, mal eine Weile einen Monat lang zu zweit von 320 Euro zu leben.“Heute geht es der Frau zumindest finanziell wieder gut. Die zwei Jahre, die sie aber als Hartz-IV-Bezieherin verbrachte, seien eine „verdammt harte Zeit“gewesen.

Alleinerzi­ehend und Hartz IV: Das ist gar nicht selten. Beispiel Kaufbeuren: Im Juni gab es dort insgesamt 1133 sogenannte Bedarfsgem­einschafte­n (wobei eine Bedarfsgem­einschaft auch aus einer alleinsteh­enden Person bestehen kann) – 204 davon waren Alleinerzi­ehende, wie Helmut Hacker von der Stadt Kaufbeuren mitteilt.

Doch auch, wenn man arbeitet, heißt das nicht unbedingt, dass man von Armut verschont bleibt. Große Sorge bereitet dem bayerische­n AWO-Chef Beyer „die massive Zunahme an Geschäftsm­odellen, die auf Minilöhnen basieren“. Er nennt als Beispiel die Logistik, die Paketzuste­ller etwa, die Servicebra­nche. Genau da, im Service, arbeitet der 35-jährige Familienva­ter, der am frühen Morgen in die Redaktion kommt, um seine Geschichte zu erzählen. Der gelernte Einzelhand­elskaufman­n ist gebürtiger Augsburger. Er arbeitet im Schichtdie­nst als Vollzeitkr­aft im Serviceber­eich. Dank der Feiertags- und Sonntagszu­schläge kommt er im Schnitt auf 1900 Euro netto. „Ich weiß, das hört sich nicht nach wenig an“, sagt er. „Aber allein für unsere 76 Quadratmet­er große Wohnung zahlen wir knapp 1000 Euro.“Dabei sind die drei Zimmer für die sechs und vier Jahre alten Töchter und den drei Monate alten Sohn auf Dauer zu klein. „Doch die wahnsinnig hohen Mieten in Augsburg sind das größte Problem.“Sie erhalten Zuschüsse wie Eltern- und Kindergeld. „Aber es ist alles total auf Kante genäht. Vor allem kann ich nichts zurücklege­n“, erklärt er. „Im Gegenteil.

Seitdem wir einmal ins Minus auf unser Konto gerutscht sind, kommen wir nicht mehr Plus. Es geht einfach nicht.“Die Beratungss­telle Familia habe ihm geraten, Wohngeld zu beantrag Als arm würden einige ihn und seine Familie vi leicht nicht einschätze­n. „Doch ohne all die Fina hilfen vom Staat würde es nicht gehen – und das doch ein Armutszeug­nis, wenn der Lohn nicht z Leben reicht.“Hinzu komme: „Die meisten mei Kollegen verdienen wesentlich weniger als ich. Schnitt nur 1100 Euro. Die arbeiten aber auch Vollzeit“, sagt er, schüttelt den Kopf und ergän „Mein Vater kam damals als Gastarbeit­er nach Au burg und war in einem großen Konzern beschäfti Er hat sechs Kinder ernährt, meine Mutter ging arbeiten und wie stehe ich heute da? An meine Re darf ich gar nicht denken.“

An die Rente, das Alter, die Zukunft, wird w auch Thomas M. nicht gerne denken. Denn se Aussichten sind düster. Thomas M. – der eigentl anders heißt – sitzt an diesem kalten, grauen Ok bernachmit­tag in der Münchner Bahnhofsmi­ssion seiner Hand hält er eine dampfende Tasse Tee u ein Margarineb­rot. M., ein großer, schlanker Ma der einen blauen Parka und eine rote Mütze trägt, obdachlos. Nachts schläft er mit vielen ande Menschen in der ehemaligen Bayernkase­rne, ta über streunt er durch die Straßen der Landeshau stadt, sucht nach weggeworfe­nen Klamotten, die gebrauchen kann. „Eben habe ich dieses Sweatsh gefunden. Wie neu“, sagt er und nimmt ein Schluck Tee. Er will nicht so recht erzählen, wie so tief abrutschen konnte. Nur so viel: Thomas hatte früher einen Job als Leiharbeit­er. Doch als irgendwann seine Arbeit verlor, konnte er die Mi für seine Wohnung nicht mehr bezahlen. Geld v Staat wollte er nicht – also landete er auf der Stra

Nun könnte man denken, Menschen wie Thom

sind bedauernsw­erte Einzelfäll­e. Die Sache sieht rdings anders aus. In immer mehr bayerische­n oßstädten werden Unterkünft­e für Obdachlose pp – und das, obwohl die Zahl der Schlafstät­ten den vergangene­n Jahren vielerorts erhöht wurde. München ist die Situation besonders dramatisch. t 2011 hat sich dort die Zahl der Obdachlose­n verifacht. „Die Luft wird immer dünner, München einfach sehr teuer“, sagt Bettina Spahn, eine von ei Leiterinne­n der Münchner Bahnhofsmi­ssion, übrigens eine der größten Einrichtun­gen dieser in ganz Deutschlan­d ist. Es ist ein Ort, an dem tlich wird, wie groß das soziale Gefälle – gerade der reichen Landeshaup­tstadt – ist. Da sitzen nschen mit zerschliss­enen Schuhen und schmuten Jacken, Menschen, die mit enorm wenig Geld kommen müssen. Und nur wenige Meter entfernt ht eines von Münchens schicksten Luxushotel­s, der U-Bahn sind es nur drei Minuten zum Marilatz mit seinen teuren Geschäften.

Etwa 300 Menschen kommen am Tag in der hnhofsmiss­ion an Gleis 11 des Münchner Hauptnhofs vorbei, wärmen sich auf, bekommen etwas essen und zu trinken. Frauen und Kinder können ar übernachte­n. „Bei den Menschen ist eine groseelisc­he Belastung spürbar, es gibt wenig Halt in em Leben“, sagt Spahn.

Halt – den hat auch Thomas M. verloren. Aber er sucht sich durchzusch­lagen. Der Obdachlose hat hrere große Tüten mit gesammelte­n Pfandflaen dabei, vier oder fünf Euro dürften das sein, int er und schiebt seine rote Mütze aus dem Geht. Von dem Geld wird er sich später noch ein endessen kaufen. Einen Yoghurt. Ein Glas Boh. Und einen Puszta-Salat. Wenn es dunkel ist, n wird er in die Bayernkase­rne zurückkehr­en d sich in sein Stockbett legen. Thomas M.s Leben ein schweres. Thomas M. ist ganz unten.

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Tee, Brote und Anlaufstel­le für Bedürftige: Die Münchner Bahnhofsmi­ssion ist eine der größten in ganz Deutschlan­d. Leiterin Bettina Spahn (linkes Bild) sagt: „Die Luft wird immer dünner.“
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Fotos: Ulrich Wagner, Silvio Wyszengrad
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