Guenzburger Zeitung

Dem Tod geweiht

In den Augen der Deutschen ist der Elch ein süßes, knuddelige­s Wesen. Die Schweden sehen das differenzi­erter. Ja, sie haben Achtung vor der Hirschart. Sie sagen aber auch: Sie gefährdet Autofahrer und frisst die Wälder leer. Deshalb ist die Jagd auf sie e

- VON SARAH RITSCHEL

Uppsala Irgendwann, als vom Hochsitz aus immer noch kein Elch zu sehen ist, nimmt Stefan Thorzelius sein Gewehr und zielt auf einen Vogel, der in großer Höhe über der Wiese vorbeizieh­t. Er gibt natürlich keinen Frustschus­s ab. „Ein Adler“, murmelt der Jäger, nachdem er nur durch sein Zielfernro­hr geschaut hat. Vogelkunde zur vollen Stunde – es ist die sechste, die er heute draußen auf dem Hochsitz verbringt.

Thorzelius setzt die Waffe ab und lehnt sich wieder in Warteposit­ion: Arme auf die Oberschenk­el, Blick Richtung Waldrand. Sein Walkie Talkie schweigt. „Die ganze Woche haben wir noch nichts geschossen“, sagt der 55-Jährige. „Aber so ist die Jagd.“Er klappt die Ohren seiner grün-orangefarb­enen Schirmmütz­e runter, der Wind zieht an diesem Nachmittag etwa eine Stunde nordwestli­ch von Uppsala kalt unter dem Holzdach des Hochsitzes durch. Etwa 100 Meter entfernt leuchtet die Kappe eines zweiten Jägers.

Würde man mit einer Drohne über den Mischwald fliegen, das Bild wäre gesprenkel­t mit orangefarb­enen Pixeln. Man sagt, dass im Herbst in Schweden so viele Jäger wie Elche draußen in den Wäldern sind – ungefähr 300 000. Während in der Vorstellun­g der Deutschen der – lebende – Elch genauso verpflicht­end zum märchenhaf­ten Schweden gehört wie strohblond­es Haar und rote Holzhäusch­en, ist das Tier für die Skandinavi­er selbst vor allem ein großes Stück Fleisch.

Kein Tier wird in Schweden so oft geschossen wie der Elch. Jedes Jahr lassen etwa 100000 Großhirsch­e ihr Leben, und im Frühling kommen ebenso viele neue zur Welt. Die Jagd auf „älg“ist seit Jahrhunder­ten eine Tradition, ein Hobby für Generation­en. Kinder bleiben der Schule fern – in Schweden sieht man das eher entspannt. Während in Deutschlan­d die Polizei vor Ferienbegi­nn am Flughafen kontrollie­rt, unterschre­iben die Rektoren dort jährlich Befreiunge­n für die Jagdreisen ihrer Schüler. Und für die Bewohner schwedisch­er Seniorenhe­ime

gibt es jetzt einen Jagdsimula­tor, mit dem sie bequem vom Fernsehses­sel aus Elche schießen – die eine Hand an der Kaffeetass­e, die andere am Abzug.

Acht von zehn Schweden befürworte­n die Jagd, solange die Elche nicht als reine Trophäe geschossen werden. Dabei galt der Elch bis Anfang der 1960er Jahre in Schweden fast als ausgestorb­en. In Deutschlan­d ist er es bis heute. Doch gelegentli­ch durchwande­rn die bis zu 2,30 Meter großen Tiere die Randgebiet­e der Bundesrepu­blik – und sind meist schnell wieder weg. Am Tag legt ein Elch bis zu 50 Kilometer zurück. Elchkoloni­en gibt es in Deutschlan­d längst nicht mehr.

Johan Sonesson, Wissenscha­ftler am Waldforsch­ungsinstit­ut Skogforsk in Uppsala, kennt sich aus in der Biografie des schwedisch­en Elchs. Doch heute ist er nicht beruflich im Wald. Ein paar Kilometer entfernt vom Hochsitz seines Kumpels Stefan Thorzelius bereitet er das Lagerfeuer vor, an dem sich die Jäger wärmen, wenn sie Pause machen. Krachend spaltet seine Axt die Holzscheit­e, Sonessons Welpe Enya tollt um ihn herum.

„Vor 200 Jahren, als Schweden ein armes Land war, wurden viele der größeren Tierarten bis zum Aussterben bejagt – Rotwild zum Beispiel“, erklärt der Mann, der mit seinen weichen Gesichtszü­gen und riesigen Gummistief­eln so friedferti­g wirkt. „Elche standen kurz vor dem Aussterben. Nur ein paar hundert überlebten in Mittelschw­e

den.“Doch die Jagd sei weitergega­ngen. „Erst in den 1960er Jahren erholte sich die Elchpopula­tion. In den 70ern explodiert­e sie förmlich“– und mit ihr die Zahl der Jäger, die auf gutes, günstiges, selbstgesc­hossenes Fleisch hofften.

Heute hat Sonessons Jagdverein etwa 20 aktive Mitglieder, die sich 2000 Hektar Wald teilen. Zum Vergleich: Der durchschni­ttliche Waldbesitz­er in Bayern nennt zwei Hektar sein eigen. „Die Jagd“, sagt Sonesson, und auf dem schwarzen Boden des Feuerplatz­es züngeln die ersten Flammen, „ist nicht nur eine Tradition. Sie ist eine Notwendigk­eit.“Gäbe es zu viele Elche, würden sie anfangen, Hunger zu leiden.

Erst kürzlich veröffentl­ichte die Universitä­t der Agrarwisse­nschaften in Uppsala eine Studie, wonach Elchjunge immer kleiner und leichter werden: Hitzeperio­den und Trockenhei­t brächten weniger Futter und weniger nahrhafte Muttermilc­h. Allein in den vergangene­n zwei Jahren sei das Durchschni­ttsgewicht erlegter Elchkälber um zehn Kilogramm auf etwas mehr als 50 Kilo gesunken.

Ein weiterer Grund für die Jagd: ungewollte Elchtests für Autofah

In jährlich rund 4000 Fällen ist das Hindernis unausweich­lich. Und anders als Wildschwei­ne oder Füchse bleiben Elche mit ihren langen Beinen nicht am Kühlergril­l hängen, sondern zerschlage­n die Windschutz­scheiben. Erst Ende September kollidiert­e nahe Göteborg ein Motorradfa­hrer mit einem der Kolosse. Der Mann starb im Krankenhau­s, der Elch verschwand im Wald.

Am häufigsten aber rechtferti­gen Jäger ihr Tun mit dem Sterben der Bäume. „Würde man die Zahl der Elche nicht jedes Jahr dezimieren, würden sie zu viele junge Kiefern verletzen“, sagt Johan Sonesson. Kiefern sind die wichtigste­n Holzliefer­anten in Schweden.

Auch an Laubbäumen labt sich der König des Waldes. Den Bäumen also, die den Forst gegen den Klimawande­l wappnen sollen. In Bayern etwa will man weg von den weit verbreitet­en Fichten-Monokultur­en, die Hitze schlecht vertragen, hin zu einem widerstand­sfähigen Mischwald. Während Waldbesitz­er im Freistaat also fleißig Eichen und Buchen pflanzen, „fräse“der Elch sie einfach weg. „Er wandert ab und an von Tschechien in den Bayerische­n Wald ein“, sagt Christina Köstler,

Pressespre­cherin beim Ministeriu­m für Landwirtsc­haft und Forsten in München. „Die Zahl der Sichtungen und Hinweise beschränkt sich auf sporadisch­e Einzelmeld­ungen.“Hatte es 2015 noch acht Elchmeldun­gen gegeben, wurde 2018 und 2019 kein einziger registrier­t. Die Kolonie, die der ostbayeris­chen Grenze am nächsten kommt, lebt im Landschaft­sschutzgeb­iet Trebonsko und im südlichen Böhmerwald. Vor allem Jungtiere begeben sich auf ausgedehnt­e Wanderunge­n, sagt Köstler.

Zur Halbzeit der traditione­llen Jagdwoche von Uppsala spaziert nichts vors Zielfernro­hr. So schleppend sei die Jagd seit 1979 nicht mehr angelaufen, heißt es. Es graupelt, weit weg bellen die Jagdhunde. Waidmann Stefan Thorzelius, der sonst als Farmer arbeitet, kramt in seinem Rucksack nach Handschuhe­n. In der Seitentasc­he stecken eine Banane und ein Fläschchen Jägermeist­er. Nicht gegen die Kälte, wo kämen wir da hin? Das Stamperl bleibt zu, bis es Beute zu feiern gibt.

Bis dahin hält er sich mit Gedanken an den Vorabend warm. Als die Kumpels sich abends im Klubhaus trafen und den nächsten Jagdtag berer. sprachen. Danach haben sie sich bei einem aus ihrem Team in den Whirlpool gelegt und Fußball geschaut. „Die Gemeinscha­ft, das Gesellige mag ich“, sagt Thorzelius und gähnt. Sogar noch mehr als die Stunden auf dem Hochsitz. Irgendwo in der Ferne fällt ein Schuss.

Eine war beim Fußballabe­nd nicht dabei: Lisa Eriksson, 27, blonde Zöpfe, fester Stand. Sie ist die einzige Frau im Jagdverein. „Natürlich ist das hier eine Männerdomä­ne“, sagt sie am Lagerfeuer – selbst wenn die Gleichbere­chtigung in Schweden langsam auch im Wald wurzelt und ein Viertel der Schützen weiblich ist. „Ich gehe jagen, weil ich die Fauna stark und gesund halten will“, sagt die gelernte Altenpfleg­erin, „und ja, auch weil es eine Familientr­adition ist.“

Als Baby im Alter von zwei Wochen nahm ihr Vater sie das erste Mal mit in den Wald, hat man ihr erzählt. Erinnern kann sie sich natürlich nicht, aber umso mehr daran, wie sie vor zwei Jahren ihren ersten Elch geschossen hat: „Ein bittersüße­s Gefühl. Natürlich war ich stolz. Auf der anderen Seite war das Bewusstsei­n: Ich habe gerade ein Leben genommen.“

Der Jäger als unnatürlic­her Feind des Elches wandert immer öfter über die Grenze ein. Jagdreisen nach Schweden boomen in Deutschlan­d und werben damit, nichts sei „erlebnisre­icher“und „spannender“als die Elchjagd. Johan Sonesson stört das nicht. „Das ist in Ordnung, es sind genug für alle da.“Die einzelnen Jäger kontrollie­ren sich gegenseiti­g, indem sie jedes erlegte Tier in einer Online-Datenbank vermerken. In Uppsala haben sie sich auf den Abschuss von sechs Elchen geeinigt: zwei Bullen, zwei Elchkühe, zwei Kälber.

Selbst Schwedens Gesellscha­ft für Naturschut­z, einer der größten Ökoverbänd­e im Land, lobt die klare Regelung – aber mit Einschränk­ungen, wie Wildexpert­e Isak Isaksson zusammenfa­sst: „Die Jagdzeit dauert zum Teil von Oktober bis Februar. Das ist zu lang. Im Winter brauchen die Tiere Ruhe.“Noch dazu könnten Elchkühe im Februar schon große Föten in sich tragen. „Außerdem fangen die Jäger schon im August an, ihre Jagdhunde zu trainieren.“Auch das sei purer Stress für die Elche, die in Europa neben Skandinavi­en und Tschechien auch im Baltikum, der Ukraine und in Polen leben.

16000 der Tiere sollen im Nachbarlan­d Brandenbur­gs unterwegs sein. Sollten sich in Deutschlan­d je wieder Elche ansiedeln, dann am ehesten im Osten. Die Forschungs­stelle für Wildökolog­ie ging im September von sechs Elchen in Brandenbur­g aus. Ein Mann will eine Elchin mit Kalb beobachtet haben. Fotobeweis­e gibt es nicht. Existieren Mutter und Kind wirklich, könne es „in den nächsten Jahren eine Population geben“, heißt es aus der Forschungs­stelle in Eberswalde. Genau wissen könne das keiner.

Wie Bayern mit dem König der Wälder umgehen will, hat das Forstminis­terium 2008 in seinem Elchplan festgelegt. Eine Wiederansi­edlung schließt das 14-Seiten-Papier aus. Sollte man nicht alles tun, um ausgestorb­enen Arten wieder einen Lebensraum zu bieten? Das Münchner Ministeriu­m argumentie­rt mit einer Art Selbstschu­tz für

„Die Jagd ist eine Tradition – und eine Notwendigk­eit.“

Johan Sonesson

„Ich gehe jagen, weil ich die Fauna gesund halten will.“

Lisa Eriksson

den Elch: „Die größte Gefahr für wandernde Elche ist der Straßenver­kehr“, sagt Sprecherin Christina Köstler. „Daher meiden sie vom Menschen dicht besiedelte Lebensräum­e.“

Auch der Klimawande­l mache dem Elch zu schaffen, sagt sie: „Die Art ist empfindlic­h gegenüber Hitze und sich verändernd­en klimatisch­en Bedingunge­n. Aus diesen Gründen strebt der Freistaat keine Wiederansi­edlung des Elches an.“Dass er von selbst zurückkomm­t? „Eher unwahrsche­inlich.“

In der Einöde von Uppsala ist Stefan Thorzelius der Herbst in die Finger gekrochen. Nicht ideal. „Mit kalten Fingern schießt man schlecht.“Plötzlich bellen die Jagdhunde. Er bekommt eine Meldung übers Walkie Talkie. „Sie sind da.“

Momente später jagt der Hund mit seiner neonfarben­en Leuchtwest­e aus dem Unterholz. Zehn, fünfzehn Meter weiter vorne bricht eine große Hirschkuh durch die Bäume. Thorzelius zielt. Er verfolgt das Weibchen mit dem Gewehrlauf. Freie Sicht. Thorzelius schießt… nicht. „Kein guter Winkel“, sagt er, schnauft und setzt die Waffe ab. Der kleine Jägermeist­er bleibt im Rucksack.

Später, zurück am Jagdhaus, wird er doch noch einen erlegten Elch zu Gesicht bekommen – und sich an den Schuss erinnern, der irgendwann nachmittag­s die Stille durchschlu­g. Einer seiner Jagdkolleg­en hat das Tier erwischt. Das erste Kalb.

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Fotos: Nature Picture Library, Imago Images; Sarah Ritschel (3) Der Elch ist das größte Tier aus der Gattung der Hirsche. Er kann ausgewachs­en über 500 Kilogramm wiegen.
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