Guenzburger Zeitung

Rundlauf mit Tischgymna­stik

Ballettche­f Ricardo Fernando choreograf­iert Adolphe Adams Klassiker „Giselle“am Staatsthea­ter Augsburg zeitgemäß. Doch verschenkt er dabei auch einige Möglichkei­ten

- VON BIRGIT MÜLLER-BARDORFF

Augsburg Es ist eine Geschichte über die Sehnsüchte junger Menschen nach Freiheit und Liebe, über den Anspruch auf Selbstbest­immung, aber auch eine über den Schmerz, von dem geliebten Menschen geund enttäuscht worden zu sein – mit tödlichem Ausgang. Und letztendli­ch ist es eine Geschichte, die von einer selbstlose­n Liebe erzählt, die auch über den Tod hinausreic­ht. Locker und leicht beginnt sie in volkstümli­cher Szenerie, um ein schaurig-bedrohlich­es Ende in einem Zwischenre­ich von Leben und Tod zu finden. Universell­e Themen also, tiefenpsyc­hologisch aufgeladen noch dazu. Sie machen Adolphe Adams „Giselle“zum Klassiker des romantisch­en Balletts, der seit seiner Uraufführu­ng 1841 in Paris auf den Bühnen der Welt ein Publikumsr­enner ist. Und dies umso mehr, als darin auch die Lust am Tanz thematisie­rt wird – in grandiosen Soli, Pas de deux und EnsembleFo­rmationen, die dem damals gerade aufkommend­en Spitzentan­z ein Fest geben. Viele zeitgenöss­ische Choreograf­en fanden dafür eine zeitgemäße Bewegungss­prache, verbanden das klassische Vokabular mit modernen Ausdrucksv­ariationen. Am bekanntest­en ist wohl die Fassung des schwedisch­en Choreograf­en Mats Ek. und wirkt dazu noch belanglos. Ihr Handeln und Fühlen vermitteln die Figuren mehr in gestenreic­her Pantomime als in ausdruckss­tarker und abwechslun­gsreicher Choreograf­ie. Ein grandioser Tänzer wie Nikolaos Doede als Hilarion wird da zum Flasche schwenken und Herumtorke­ln verurteilt. Das erstaunt umso mehr, als Ricardo Fernandos Ballett-Stücke

in der Regel ihre Stärke vor allem aus ihrer Symbiose mit der Musik beziehen. In „Giselles“erstem Akt verschenkt er diese Möglichkei­t.

Erst nach der Pause, im sogenannte­n „weißen Akt“, ändert sich dies. Im Todesreich der Willis, den Seelen enttäuscht­er Liebender, wird nun teilweise furios getanzt. Dabei sind die Willis nicht nur junge Mädchen, sondern auch Männer. Schließlic­h, so Fernando im Programmhe­ft, sei unerfüllte Liebe ja kein Privileg der Frauen. Dies erweist sich nicht nur als gendergere­cht, sondern ist zugleich eine gute Möglichkei­t, bei kleinem Ensemble die Bühne doch mit stattliche­n Formatione­n zu füllen.

Dorin Gal vollzieht den Stimmungsw­echsel gelungen in einem atmosphäri­schen Bühnenbild und passenden Kostümen. Der Vorplatz eines Wirtshause­s in den Bergen ist zur schicksals­umwehten Stätte mit Ruine und einem verbrannte­n Baum geworden. In dieser fahlen Szenerie bringen die Willis ihre halblangen grauen Tüllröcke ins Schwingen.

Und nun gewinnen auch die Tänzer Kontur: Ana Isabel Casquilho als ätherisch-schwebende Giselle, Gustavo Barros als Albrecht, der durch seine präzise Technik beeindruck­t, Nikolaos Doedes Hilarion, der sich die Seele aus dem Leibe tanzen muss. Vor allem aber Myrtha, die Herrscheri­n dieses Schattenre­iches, die Gabriela Zorzete Finardi mit gebieteris­cher Kühle präzise und fasziniere­nd auf die Bühne bringt.

Unter diesem Eindruck war der Premieren-Jubel groß im Martinipar­k: Für die Tänzer, für Choreograf Fernando und sein Team, vor allem aber für den Ersten Kapellmeis­ter Ivan Demidov und die Augsburger Philharmon­iker, die das Ballett zu einem musikalisc­hen Ereignis machten.

Insgesamt bleibt aber der Eindruck, dass die Augsburger „Giselle“eine verpasste Chance ist, dass auch das Ensemble mit seinen vielen neuen Tänzerinne­n und Tänzern noch nicht zu einer (auch synchronen) Einheit gefunden hat.

Giselle stirbt nicht an gebrochene­m Herzen

O Nächste Vorstellun­gen am 7. und 10. November

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Foto: Jan-Pieter Fuhr Wenn der Holztisch zum choreograf­ischen Element wird, wird mitunter auch die Choreograf­ie in „Giselle“am Staatsthea­ter hölzern.

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