Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (98)
Indem Meister Olivier also sprach, vertauschte er den Hochmuth in seinem Gesichte mit der Hundedemuth. Das sind die zwei einzigen Gestalten, unter denen sich das Gesicht eines Höflings zeigt. Der König sah ihm starr ins Gesicht und sagte trocken: „Ich verstehe.“
Nach einer Pause fuhr der König fort: „Meister Olivier, der Marschall Boucicaut sagt: Bei Königen und im Meere ist gut Perlen fischen. Ich sehe, daß Du auch dieser Meinung bist. Jetzt aber höre, was ich Dir sagen will. Ich habe ein gutes Gedächtniß. Im Jahre 1468 habe ich Dich zu meinem Kammerdiener gemacht, im Jahre 1469 zum Castellan im Schlosse von Saint-Cloud, im November 1473 zum Aufseher im Gehölze von Vincennes, im Jahre 1475 zum Waldmeister in Rouvray, im Jahre 1479 zum Commandanten im Schlosse von Loches, dann zum Gouverneur von Saint-Quentin, dann zum Commandanten von Meulan, wovon Du den Grafentitel führst. Von den fünf Sous Strafe, die jeder Barbier Unseres
Reiches bezahlt, der an einem Festtage rasirt, beziehst Du drei Sous, und ich, der König, nur zwei. Ich habe Deinen Namen Olivier der Teufel, der Deiner Miene ganz gut entspricht, in einen andern verwandelt. Ich habe, zum großen Mißvergnügen Unseres Adels, Dir ein buntes Wappen gegeben, mit dem Du stolzirst wie ein Pfau. Pasque-Dieu! Bist Du noch nicht übervoll? Hast Du noch nicht genug gefischt? Hüte Dich, daß Dein Schiff nicht umschlägt, wenn Du zu starke Ladung nimmst! Der Hochmuth hat schon mehr als Einem Verderben gebracht. Bedenke das, Gevatter! Hochmuth kommt vor dem Falle, ist ein altes Sprüchwort. Jetzt sei weise und schweig!“
Als der Barbier des Königs diese rauhen Worte vernahm, kehrte die Unverschämtheit auf sein Gesicht zurück. „Man sieht wohl,“murmelte er laut genug, „daß der König heute krank ist, der Arzt bekommt Alles.“
Statt sich über diese Unverschämtheit zu ärgern, fuhr Ludwig etwas weniger streng fort: „Fast hätte ich vergessen, daß ich Dich auch zu meinem Gesandten bei der Prinzessin Marie in Gent gemacht habe.“
„Ja, Ihr Herren,“fuhr er, zu den beiden Flamändern gewendet, fort: „dieser Mensch da ist ein Gesandter gewesen.“
„Nun, nun, Gevatter,“sagte er nach einer Pause zu Meister Olivier, „wir sind alte Freunde, und wollen uns nicht zanken. Es ist schon spät. Wir haben Unsere Arbeiten beendigt. Rasire mich.“
Der Leser hat ohne Zweifel bereits in Meister Olivier jenen furchtbaren Figaro erkannt, welchen die Vorsehung, diese große Tragödienschreiberin, der langen und blutigen Comödie Ludwigs XI. so kunstgerecht beigefügt hat. Dieser Barbier des Königs hatte drei Namen: Am Hofe nannte man ihn höflich: Olivier-le-Dain; unter dem Volke: Olivier-le-Diable. Sein wahrer Name war: Olivier-le-Mauvais.
Olivier blieb unbeweglich stehen, trutzte dem König und sah den Arzt mit scheelen Blicken an. „Ja, ja! Dieser Doktor da!“murmelte er zwischen den Zähnen.
„Freilich! Dieser Doktor,“entgegnete ihm der König mit gutmüthigem Spott, „dieser Doktor vermag freilich mehr, als der Barbier, und das ist ganz einfach, denn er hat Unsern
ganzen Körper in der Hand, und Du nur das Kinn. Geh also, mein guter Gevatter Bartkratzer, hole Dein Handwerkszeug und rasire mich.“
Als Meister Olivier sah, daß sich der König nur über ihn lustig machte, und daß man ihn nicht einmal erzürnen konnte, verlieh er brummend das Zimmer, um seine Befehle zu vollziehen. Der König erhob sich und trat an das Fenster. Plötzlich öffnete er es mit großer Bewegung, klopfte in die Hände und rief: „Oh! Da ist der Himmel in der Altstadt schon blutig roth! Der Gerichtsherr im Justizpalast brennt. Es kann nichts Anderes sein. Ah! Mein gutes Volk, hilfst Du mir endlich, diese Edelmanns-Herrschaften stürzen?“
„Ihr Herren,“sprach er jetzt, zu den Flamändern gewendet, „kommt her und seht! Ist das nicht ein Feuer, das lustig brennt?“
Die beiden Flamänder näherten sich.
„Ein großes Feuer!“sagte Wilhelm Rym.
„O!“fügte Jakob Coppenole mit leuchtenden Augen hinzu, „das erinnert mich daran, wie man das Haus des Herrn v. Hymbercourt verbrannte. Es muß dort ein gewaltiger Aufstand sein.“
„Glaubt Ihr, Meister Coppenole?“sagte der König, und sein Blick war fast so aufgeregt als der des Strumpfwebers.
„Nicht wahr, es wird da schwer Widerstand zu leisten sein?“
„Beim heiligen Kreuz, Sire! Dazu wird es mehr als ein paar Compagnien guter Truppen brauchen.“
„Ah! Ich! Das ist ein Anderes,“erwiederte der König. „Wenn ich wollte …“
Der Strumpfweber versetzte keck: „Wenn dieser Aufstand das ist, wofür ich ihn halte, so würde Euer Wollen nicht viel helfen.“
„Gevatter!“sagte der König, „mit zwei Compagnien meiner Haustruppen und ein paar Feldschlangen hat man einen Haufen von Bürgern und Insassen bald ausgefegt.“
Der Strumpfweber schien trotz der Zeichen, die ihm Wilhelm Rym gab, entschlossen, dem König die Spitze zu bieten: „Sire, die Schweizer waren auch nur Bürger und Bauern. Der Herzog von Burgund war ein großer Fürst und verachtete dieses Bürgerpack. In der Schlacht von Granson schrie er: Artilleristen, gebt Feuer auf diese Hunde! Aber die Schweizer fielen mit ihren Schwertern und Morgensternen über ihn her, und die in Stahl gekleidete Armee der Burgunder zerstob vor den kräftigen Fäusten der Bauern, die ihr mit unbedeckter Brust entgegentraten. Da sind viele Ritter und Edelleute von gemeiner Hand erschlagen worden.“
„Freund,“entgegnete der König,
„Ihr sprecht da von einer geordneten Feldschlacht. Hier aber handelt es sich um einen Aufstand, und wenn ich nur mit den Augen zucke, so muß er zu Ende sein.“
„Das ist möglich, Sire! Dann ist eben die Stunde des Volks noch nicht gekommen.“
Wilhelm Rym glaubte sich einmischen zu müssen: „Meister Coppenole, bedenkt, daß Ihr mit einem mächtigen König sprecht.“
„Das weiß ich,“antwortete ruhig der Strumpfweber.
„Laßt ihn doch reden, Herr Wilhelm Rym, mein Freund, ich liebe das freimüthige Wesen. Mein Vater, Carl VII., sagte, die Wahrheit sei krank; ich glaubte, sie sei todt und habe keinen Beichtvater gefunden. Meister Coppenole zeigt mir jetzt, daß ich mich irrte.“
Mit diesen Worten legte er vertraulich die Hand auf des Strumpfwebers Schulter: „Fahrt fort, Meister Jakob, was wolltet Ihr weiter sagen?“
„Ich sagte, Sire, Ihr mögt vielleicht Recht haben, daß bei Euch die Stunde des Volks noch nicht gekommen ist.“
Ludwig XI. sah ihn mit seinem durchdringenden Blicke an: „Und wann wird diese Stunde kommen?“„Wenn man sie schlagen hört.“„Auf welcher Uhr, wenn es Euch gefällig ist?“»99. Fortsetzung folgt