Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (100)
DEin Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestalteten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenkommt. Doch der Hauptprotagonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg
iese Frage brachte den König zum Nachdenken: „Ah!“sagte er, „die Hexe!“
„Herr Prevot,“fragte er nach einer Pause, „was wollte denn das Volk mit ihr machen?“
„Sire,“antwortete der Prevot von Paris, „weil das Volk sie aus ihrem Asyl in der Liebfrauenkirche reißen will, so denke ich mir, daß es sich durch ihre Straflosigkeit verletzt fühlt, und sie aus eigener Gewalt aufknüpfen will.“
Der König dachte einen Augenblick nach, dann sprach er zu Tristan: „Je nun, Gevatter, haue das Volk zusammen und knüpfe die Hexe auf!“
„So ist es recht,“sagte Wilhelm Rym leise zu Jakob Coppenole, „das Volk strafen, weil es will, und dann thun, was es will!“
„Ganz wohl, Sire!“antwortete Tristan. „Wenn aber die Hexe noch in der Liebfrauenkirche ist, soll ich sie dann trotz des Asyls herausnehmen?“
„Pasque-Dieu! Das Asyl!“sagte
der König und kratzte sich hinter den Ohren. „Und gleichwohl muß diese Hexe gehängt werden!“
Jetzt kniete er, wie von einem plötzlichen Gedanken ergriffen, vor seinem Sessel nieder, nahm den Hut ab und blickte inbrünstig auf eines der darauf befindlichen kleinen Heiligenbilder: „Oh!“sagte er mit gefalteten Händen, „unsere liebe Frau von Paris, meine gnadenreiche Beschützerin, verzeihe mir! Ich will es ja nur diesmal thun. Diese Verbrecherin muß ja bestraft werden. Ich betheure dir, heilige Mutter Gottes, daß sie eine Hexe und deines himmlischen Schutzes unwürdig ist. Du weißt ja selbst, heilige Jungfrau, daß viele sehr fromme Fürsten die Vorrechte der Kirche überschritten haben, so oft es zur Ehre Gottes und zum Wohle des Staats erforderlich war. Du wirst mir also für diesmal verzeihen, gebenedeite Jungfrau! Ich will es gewiß nicht wieder thun, und will in deine Kirche einen silbernen Heiland am Kreuz stiften. Amen! Also geschehe es!“
Der König machte ein Zeichen des Kreuzes, stand auf und bedeckte sich wieder. Hierauf sprach er zu Tristan: „Spute Dich, Gevatter! Nimm den Herrn von Chateaupers mit Dir. Laßt Sturm läuten, haut das Volk zusammen, hängt die Hexe. Jetzt hast Du Deinen Bescheid. Eile Dich und berichte mir, wenn meine Befehle vollzogen sind. Olivier, ich gehe diese Nacht nicht in’s Bett, Du kannst mich jetzt rasiren.“
Tristan verbeugte sich und verließ das Zimmer. Der König gab den beiden Flamändern ein Zeichen des Abschieds und sagte: „Gott nehme Euch in seine heilige Obhut, ihr Herren und Freunde aus Flandern! Ihr werdet wohl der Ruhe bedürfen. Wir sind schon weit in der Nacht, und näher am Morgen als am Abend.“Die Beiden entfernten sich, und als sie, von dem Befehlshaber der Bastille begleitet, in ihre Zimmer gingen, sagte Jakob Coppenole zu Wilhelm Rym: „Hm! Ich habe genug bekommen an diesem hustenden König! Ich habe Karl von Burgund betrunken gesehen, aber er war in seinem Rausche weniger bösartig, als dieser Ludwig in seiner Krankheit.“
„Meister Jakob,“erwiederte Wilhelm Rym, „das kommt daher, weil die Könige beim Weine weniger grausam sind als bei der Kräuterbrühe.“ Als Peter Gringoire die Bastille verlassen hatte, lief er mit der Schnelligkeit eines begossenen Hundes die Straße Saint- Antoine hinab. Als er am Thore Baudojer ankam, ging er gerade auf das steinerne Kreuz zu, das mitten auf diesem Platze stand, wie wenn er in der Dunkelheit der Nacht das Gesicht eines schwarzgekleideten verlarvten Mannes hätte unterscheiden können, der auf den Stufen des Kreuzes saß.
„Seid Ihr es, Meister?“fragte Peter Gringoire.
Der Schwarze stand auf. „Bei dem Leiden Jesu Christi! Du hast mir die Zeit lang gemacht. Der Wächter auf dem Thurme SaintGervais hat bereits die zweite Stunde nach Mitternacht angekündigt.“
„Oh!“erwiederte Meister Peter, „daran bin ich nicht Schuld, sondern die Nachtwache und der König Ludwig. Ich bin noch gut davon gekommen. Immer droht mir der Strick. Das ist einmal meine Prädestination.“
„Dir droht Alles und Nichts. Jetzt aber laß uns gehen. Hast Du das Losungswort?“
„Denkt einmal, Meister, ich habe den König gesehen. Ich komme eben von ihm. Er hat einen schwarzen Rock an. Da ist aber nicht zu spassen, das Wasser ging mir an den Kragen und der Strick war schon geschnürt.“
„O altes Weib! Was gehst mich Du sammt Deinem König an! Ich will von Dir wissen, ob Du das Losungswort der Landstreicher hast?“
„Das habe ich, seid ruhig deßhalb. Es heißt Blendlaterne.“
„Gut. Sonst könnten wir nicht bis zur Kirche gelangen. Die Gauner haben alle Straßen besetzt. Glücklicherweise haben sie, wie es scheint, Widerstand gefunden. Wir kommen vielleicht noch zu rechter Zeit.“
„Wohl, Meister, aber wie wollen wir in die Kirche kommen?“
„Ich habe den Schlüssel zum Thurme.“
„Wie kommen wir aber heraus?“„Hinter dem Kloster ist eine kleine Thüre, die zum Flusse führt. Ich habe den Schlüssel dazu genommen und diesen Morgen dort einen Nachen angelegt.“
„Wenn Ihr wüßtet, Meister, wie wunderbar ich dem Stricke entgangen bin!“sang Peter Gringoire sein altes Lied.
„Schweig! Ich wollte, sie hätten Dich gehängt! Laß uns gehen!“erwiederte barsch der Andere.
Jetzt eilten Beide mit schnellen Schritten der Altstadt zu.
Der Leser erinnert sich der kritischen Lage, worin wir unsern Quasimodo gelassen haben. Der tapfere Zwerg, von allen Seiten angefallen, hatte, wenn auch nicht den Muth, doch die Hoffnung verloren, nicht sich (an sich dachte er nicht), sondern die Aegypterin zu retten. Er eilte in vollem Laufe der Galerie zu. Die Liebfrauenkirche war auf dem Punkte, in die Hände der Gauner zu fallen. Plötzlich hörte man in den anliegenden Straßen den raschen Galopp eines großen Reiterhaufens, und bald brachen von allen Seiten Colonnenspitzen mit eingelegter Lanze hervor, und stürzten sich wie ein Sturmwind auf die Gauner. Ein gewaltiges Geschrei ertönte:“Hier Frankreich! Haut sie nieder! Hier Bogenschützen von Chateaupers! Hier Prevotalwache!“Die bestürzten Gauner machten rechtsumkehrt gegen diesen unerwarteten Angriff. Quasimodo, obwohl taub, sah doch die bloßen Schwerter und die gesenkten Lanzen; er erkannte Phöbus von Chateaupers an der Spitze der Reiter; er sah die Verwirrung in den Reihen der Gauner, die Mutlosigkeit der Einen, die Unschlüssigkeit der Tapfersten, und dieser unerwartete Beistand, belebte seinen Muth so, daß er die wenigen Angreifer, welche eben die Galerie erstiegen, wieder hinabwarf. Die Gauner leisteten inzwischen den Truppen des Königs tapfern Widerstand und wehrten sich wie Verzweifelte.
»101. Fortsetzung folgt