Der Botschafter des guten Geschmacks
Jürgen Dollase ist einer der renommiertesten Restaurantkritiker des Landes. Umso erstaunlicher, weil er sich als Rockmusiker vorwiegend von Fastfood und Bier ernährte. Bis seine Frau eines Tages in Tränen ausbrach und sein Leben auf den Kopf stellte
Baiersbronn Inzwischen ist der berühmte Gourmet Jürgen Dollase tatsächlich so alt, wie er am Ende seiner Musikkarriere in der Rockband „Wallenstein“Anfang der 1980er Jahre ausgesehen hat: „Mein Arzt sagte mir damals, dass mein Körper für einen 70-Jährigen noch gut in Schuss sei.“Das Problem: Dollase war zu diesem Zeitpunkt erst Mitte 30.
Wie viel Legende und Wahrheit in dieser Anekdote steckt, kann heute, da Jürgen Dollase die 70 tatsächlich überschritten hat, keiner mehr genau sagen. Fest steht aber, dass der großgewachsene Mann, dessen Figur weit weniger barock ist, als es sein Beruf als renommierter Restaurantkritiker schließen lässt, überaus erfolgreich das Fach samt Instrumentarium gewechselt hat: Sein illustrer Lebensweg führte ihn vom Keyboard zum Schneebesen, vom Marihuana zum Koriandergrün.
Dass er mit seinem zweiten Leben als Botschafter des guten Geschmacks nicht die schlechteste Wahl getroffen hat, könnte nirgendwo deutlicher werden, als an diesem nebligen Novembertag im DreiSterne-Restaurant „Schwarzwaldstube“, das zum Hotel „Traube Tonbach“gehört. Dollase macht im Rahmen dieses exquisiten Mittagsmenüs genau das, was er seit Jahrzehnten als kulinarische Instanz in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung tut: Er spricht über das Essen – im Allgemeinen und über das von DreiSterne-Koch Torsten Michel, der hier in Baiersbronn im Schwarzwald auftischt, im Besonderen. Nur die langen Haare, die wie feine Zuckerwatte auf den Schultern ruhen, erinnern noch an Dollases Zeiten als Rocker. Wenngleich sich die üppige Mähne von einst im wahrsten Sinne des Wortes verdünnisiert hat und dabei mehr und mehr Stirn freilegt.
Bis zu diesem Novembertag war es allerdings ein sehr weiter Weg, der lange Zeit nach allem anderen ausgesehen hat – nur ganz sicher nicht nach der Karriere eines Kritikers, den sogar die Kritisierten, immerhin hochdekorierte Köche, respektieren. Auch wenn nicht allen gefällt, was Dollase über sie schreibt.
Der Feinschmecker habe als Kind, so erklärt er am Rande des Menüs, einen denkbar schlechten
Start ins kulinarische Leben gehabt. Aufgewachsen ist er in Oberhausen in Nordrhein-Westfalen. Das Kochen sei die Sache der Mutter nicht gerade gewesen. „Wenn überhaupt geschmackliche Bildung stattgefunden hat, dann bei der Oma“, sagt Dollase, dessen Zungenschlag den Ruhrpott stellenweise noch gut erkennen lässt. Aber Großmutters Esstisch ist auch der Ort eines großen Traumas. Denn dem kleinen Jürgen blieb für Jahrzehnte jedwedes Geflügel sprichwörtlich im Halse stecken, als die Oma ihn darüber aufklärte, dass das, was er da gerade aß, eine der Gänse war, mit denen der Knabe vor ein paar Tagen noch gespielte hatte. „Bis Ende 30 habe ich nur Fastfood, Schnitzel und Nudelsachen gegessen.“
Inzwischen hat der 71-Jährige solche kulinarischen Einseitigkeiten längst hinter sich gelassen, sprich: „Es gibt nichts, was ich nicht essen würde.“Das hängt gewiss mit der unbändigen Neugierde des Mannes zusammen, der Essen und alles was damit zusammenhängt in ganz anderen Kontexten betrachtet. „Hm, lecker, satt und Feierabend – ich glaube, das geht schon etwas differenzierter“, sagt Dollase nach dem Aperitif. Eine seiner Hauptforderungen: Essen als sinnliche, ganzheitliche Erfahrung zu erleben. Weg von der „kulinarischen Legasthenie“, wie der Autor mehrerer gastrosophischer Bücher immer wieder gern das Speiseverhalten vieler Deutscher bezeichnet.
Aber wie kam es eigentlich zum Erweckungserlebnis – vom Fastfood-Junkie zum Gourmet? „Das liegt ganz allein an meiner Frau“, erzählt er. Oft sei sie vor guten Restaurants stehen geblieben. Aber der Jürgen Dollase von damals wollte da nicht rein, weil sein Bewusstsein für Genuss eben nur von Schnitzel bis Ketchup reichte. „Als wir einmal in Ostende am Hafen waren und ich mich weigerte, in eines der wunderbaren Restaurants zu gehen, brach meine Frau tatsächlich in Tränen aus.“
Das war die Stunde Null, die das Leben von Jürgen Dollase in ein Davor und ein Danach teilt. Denn gerührt durch die Tränen seiner Frau – mit der er inzwischen seit mehr als 40 Jahren zusammen ist – betrat er zum ersten Mal ein Restaurant mit nobler Küche. Und war fast blitzartig Feuer und Flamme. Und so brennt er bis heute lichterloh.
Etwa, wenn er den Gästen im Hotel „Traube Tonbach“wort- und gestenreich die Frage stellt, warum in der Kochkunst nicht längst auch der Zusammenhang zwischen dem Produkt und dem, der es zubereitet, sowie dem, der es am Ende zu sich nimmt, stärker betont wird. „Im zur bildenden Kunst lassen Sie ja die Kochkunst so nah an sich heran wie nichts sonst – Sie stecken sie sich schließlich in den Mund!“
Dollases Vortrag hat einen Unterton, der manchmal am scharfen Rand der Selbstironie kratzt. Wenn auch phasenweise etwas gespreizt, so doch keine Minute langweilig. Und er prägt dabei neue sprachliche Bilder, etwa wenn er von „kulinarischer Intelligenz“spricht – so heißt auch eines seiner Bücher. Er sinniert darüber, wie sich Kochkunst entwickeln würde, wenn sie etwa wie Theater hoch subventioniert wäre. „Wenn Oper sich selbst finanzieren muss, wird sie zum Musical“, sagt er dann unter den Lachern der Zuhörer, die gerade noch laute „Ohs“und „Ahs“über einem vielschichtigen Potpourri von Roter Beete von sich gegeben haben. Genuss und Essen betrachtet Dollase nie isoliert.
Warum ihn selbst solche Größen wie Spitzenkoch Harald Wohlfahrt anerkennen, der 37 Jahre lang das Restaurant „Schwarzwaldstube“leitete? Dollase erinnert sich an die Zeit, als die Infektion mit Spitzenküche bei ihm immer weiter fortschritt: „Damals habe ich auch zu kochen angefangen.“Und zwar nicht irgendwie, sondern gründlich. Wenn Dollase etwas in einem Sternelokal aß, was ihn faszinierte, dann versuchte er es zu Hause nachzukochen. „Die Köche merkten, dass ich Ahnung hatte. Denn ich habe alle Fehler selbst schon mal gemacht.“Damit ist Jürgen Dollase auch einer der Wenigen, die es geschafft haben, Augenhöhe zu den Spitzenköchen herzustellen. In verschiedenen Projekten ging das soweit, dass der Kritiker gemeinsam mit Spitzenköchen neue Gerichte entwickelt hat.
Die klassische Restaurantkritik, für die Dollase mit seinem präzisen und seriösen Schreibstil bekannt ist, nimmt indes einen inzwischen geGegensatz ringeren Teil seiner Arbeit ein. „Ich brauche was Neues.“Das bedeutet aber nicht, dass der ehemaliger Musiker wieder die Absicht hat, in einen Tourbus zu steigen, „wo wir damals durch 30 Zentimeter hoch leere Flaschen gewatet sind“. Es heißt vielmehr, dass Dollase die Absicht hat, weiter zu forschen zwischen Geschmack und Wahrnehmung. Denken und Schmecken zueinander zu bringen. Apropos Schmecken – gibt es auf diesem Gebiet mit steigendem Alter keine Schwächetendenzen? „Überhaupt nicht“, sagt Jürgen Dollase. Im Gegenteil. Es sei bekannt, dass sich die geistige Frische – und nichts anderes ist auch das differenzierte Schmecken und Wahrnehmen in der Vorstellung Dollases – bei genügend neuen Impulsen bestens erhalte.
„Die Kochkunst ist ja noch in einer Phase, wo die kreative Entwicklung bei weitem noch nicht ausgelotet ist. Auch wenn es schon viele Dinge gibt, von denen Sie meinen, die kann man doch gar nicht mehr essen“, sagt Dollase zu seinen Zuhörern im Hotelsaal, die sich auf einen weiteren Gang freuen – es wird eine gefüllte bretonische Rotbarbe sein, bei der das Haupt angeblich das Beste ist. Man möge den Kopf also ruhig mitverspeisen, empfiehlt der Gourmet, der selbst aber später davon absehen wird.
Jedenfalls hält Dollase nicht so viel vom Bewahren und Hüten. Eher vom Brüten: über neuen Kochtechniken, neuen Zutaten, einer neuen Generation Gast. Seine Vorstellung von Gastronomie entwickelt sich weiter, stellt als Teildisziplin der Philosophie immer neue Fragen, die über satt und glücklich hinausgehen. „Menschen, deren kulinarische Vorstellungen im Gutbürgerlichen verhaftet sind, nenne ich genussreduzierte Esser“, referiert Jürgen Dollase dann zwischen Hauptgang und Dessert – einer aberwitzigen roten Kugel mit schaumig-süßer Füllung, begleitet von einer Nocke Gänseleberemulsion. Auch dieser Gang wird Szenenapplaus ernten. Genauso wie Dollase selbst, der nach Ende des Menüs mit Dank von den Zuhörern für seine Anregungen überhäuft wird. „Sie sind eine große Inspiration“, sagt eine Dame.
Bleibt eigentlich nur noch eine Frage: Warum sitzt Dollase nicht in einer der vielen TV-Shows, in denen es ums Kochen geht? Da winkt er ab: „Die haben mich natürlich alle gefragt. Auch von ,The Taste‘.“
Das Trauma von der toten Gans wirkte Jahre nach
Gutbürgerlich? Für ihn der genussreduzierte Esser
Doch die Produktionsbedingungen passten nicht in sein Leben und in das seiner Frau, die ihn fast immer begleitet. Darüber hinaus hat er zu den meisten Fernsehköchen seine eigene Meinung, die er aber lieber für sich behält.
Was die ehemaligen Mitglieder seiner wilden Profi-Rockband machen, weiß Dollase nicht genau. Der Kontakt sei praktisch nicht mehr existent. Hier im Drei-Sterne-Restaurant scheint die Ära der biertriefenden und kiffenden Rockmusiker tatsächlich unendlich weit weg. Immerhin müsste der Doktor von damals inzwischen ganz zufrieden mit seinem Patienten sein. Denn Dollase geht es nach eigenem Bekunden gesundheitlich gut. Alter und Zustand passten heute deutlich besser zusammen. Und an Appetit mangelt es dem Feinschmecker auch noch nicht. Im Gegenteil: Der Hunger nach Neuem sei größer denn je.