Auf den Spuren des chinesischen Mythos
12500 Kilometer flüchteten Maos Soldaten im Jahr 1934 vor den Nationalisten. Dieser Lange Marsch gilt als Geburtsstunde der kommunistischen Volksrepublik. Dort, in den abgelegenen Landstrichen, erklärt sich auch die Erfolgsgeschichte des Landes
Jiangxi Es ist ein feuchtkühler Novembermorgen im Park von Loushanguan. Die überdimensionale Statue mit goldenem Hammer und Sichel wird von dicken Nebelschwaden umhüllt. Trotz des Nieselregens marschieren die 60 Studenten der Universität Südwestchinas, allesamt in himmelblauer Militäruniform gekleidet, mit demonstrativ fröhlichem Elan die Stufen zum historischen Gedenkort hinauf. In jener Gegend in der bergigen Provinz Guizhou hat Mao Tse-tung einst beim Langen Marsch seine Macht innerhalb der Kommunistischen Partei gefestigt. Über 80 Jahre später entdeckt nun die Jugend Chinas den Mythos des Langen Marsches erneut für sich.
„Wir sind alle Mitglieder der Kommunistischen Partei“, sagt die Psychologie-Studentin Xie Shixue, die, ohne zu überlegen, Mao als ihr politisches Vorbild nennt. „Früher konnten wir den Langen Marsch nur im Klassenzimmer studieren. Seit 2013 gehen wir mit unseren Kommilitonen jeden Monat auf Exkursionen und laden Referenten zu Vorträgen ein“, sagt die 25-Jährige. Ihre Kameraden breiten gerade für ein Gruppenfoto die Flagge der Volksrepublik China aus.
Der Lange Marsch gilt als der zentrale Heldenmythos der Kommunistischen Partei. Und er ist entscheidend, um die Volksrepublik China 70 Jahre nach ihrer Gründung zu verstehen. Vor allem seit Amtsantritt des Präsidenten Xi Jinping wird jenes Geschichtskapitel wieder verstärkt propagandiert: Das Fernsehprogramm ist voll von historischen Seifenopern aus jener Zeit, viele Restaurants sind im Stile der Roten Armee dekoriert.
Auch in seinen Reden bedient sich Präsident Xi wiederholt dieser historischen Metapher: Im Mai dieses Jahres rief er etwa seine Bevölkerung dazu auf, sich auf einen „neuen Langen Marsch“vorzubereiten – angesichts des damals eskalierenden Handelskonflikts mit den USA. Wann immer es darum geht, an den Patriotismus zu appellieren oder sich für eine entbehrungsreiche Periode zu wappnen, muss der Lange Marsch herhalten.
Man schreibt das Jahr 1934. Die kommunistischen Streitkräfte von Mao Tse-tung versuchen der Umklammerung durch die nationalchinesischen Truppen von Chiang Kaishek zu entgehen. Als Chiang mit seinen gut ausgerüsteten Soldaten den Vernichtungskrieg in der südchinesischen Provinz Jiangxi beginnt, bleibt den Kommunisten nur die Flucht in den Norden. 12500 Kilometer marschiert die Rote Armee über Berge und durch Wüsten.
Für Peking ist die Militäroperation eine absolute Siegesgeschichte, vergleichbar mit David gegen Goliath: Die 80000 Soldaten der Roten Armee – primitiv ausgebildet, doch den Geist der Revolution in sich tragend – konnten sich den 400000 Mann starken Nationalisten widersetzen. Dass diese zu jener Zeit ihre besten Truppen in den Kampf gegen die japanischen Streitkräfte schickten, wird in der wenig differenzierten Geschichtsschreibung Chinas unter den Teppich gekehrt.
Das staatliche Informationsamt in Peking hat die internationale Presse auf die Spuren des Langen Marsches eingeladen. Wer mit der Regierung durch die Provinzen tourt, nimmt an einem strikt organisierten Kulturprogramm teil: Fünf Flüge durch drei Zeitzonen, ein gutes Dutzend Museen und Gedenkhallen, stets in Begleitung örtlicher Journalisten, Parteikader und Forscher. Die dicht getaktete Terminhetzerei hat natürlich auch Kalkül: Zu sehen bekommen die Korrespondenten nur, was in die chinesische Agenda passt.
„Der Grund unserer Reise ist es, mehr über die Kommunistische Partei und die Geschichte Chinas zu erfahren. Jede Frage, die Sie haben, können Sie uns stellen“, sagt Xi Yanchun von der Pressestelle des Informationsamts, während der Reisebus unter der prallen Sonne der Jiangxi-Provinz zum ersten Termin brettert. „Hier hat der Lange Marsch seinen Anfang genommen, viele hochrangige Regierungsbeamte warten bereits auf die Ankunft unserer Medien-Freunde“, sagt Frau Xi mit euphorischem Lächeln.
Im Dorf Huangsha begrüßt der lokale Parteisekretär, ein jovialer Mann in brauner Lederjacke, die Medien-Delegation. Er erzählt von den 43 Familien im Dorf, die damals in ärmlichen Hütten hausten. Insgesamt 70 Männer von ihnen schlossen sich dem Langen Marsch an. Zurückgekehrt ist keiner von ihnen. Für jeden Verstorbenen wurde schließlich eine Kiefer gepflanzt, mittlerweile ragen die 70 Bäume am Berghang in den Himmel.
Das Leben der Dorfbewohner habe sich dank der Regierung grundlegend verbessert, erzählt der Parteikader: „Noch vor wenigen Jahren haben die meisten Einwohner noch in einfachen Hütten gewohnt – ohne fließend Wasser, ordentliche Betten, geschweige denn Klimaanlage.“Längst sind die Dorfbewohner in moderne, vierstöckige Apartmenthäuser gezogen. Die historischen Hütten stehen nur noch für die Touristen, um jene entbehrungsreiche Zeit in Erinnerung zu halten.
Zu Recht preist die Regierung den wirtschaftlichen Aufstieg der Volksrepublik China, die jedes Jahr Millionen aus der Armut hievt. Wenn es jedoch um die historische Geschichte der Kommunistischen Partei geht, nimmt die Parteipropaganda zuweilen überhand: In einem Gedenkmuseum unweit von Huangsha erzählt eine Reiseleiterin die Geschichte von einem Soldaten der Roten Armee, der eine weinende Gemüseverkäuferin am Straßenrand erblickt. Die Schmach der Frau besteht aus einer Handvoll gefälschter Münzen, die ihr unwissentlich untergejubelt wurden. Der Soldat fasst sich ein Herz und tauscht ihr Falschgeld gegen seine eigenen Scheine. Später, während des Langen Marsches, retten ihn jene Münzen, gelagert in seiner linken Brusttasche, mehrfach vor den Maschinengewehrsalven der Nationalisten. Hinter einer Glasvitrine ist nun jene zerschossene Soldatenuniform zu besichtigen – und soll allen Ernstes für bare Münze genommen werden.
In Shanghai oder Peking würden solche Pathos-triefenden Geschichten wohl vornehmlich höhnendes Gelächter hervorrufen. Letztendlich offenbart sich bei der Reise durch das ländliche China eine riesige Kluft – zwischen Jung und Alt, den Metropolen der Ostküste und dem unterentwickelten Hinterland. Wer sich bei der urbanen Jugend nach dem Langen Marsch erkundet, erntet oft ahnungsloses Achselzucken. Für ältere Chinesen aber speist sich die eigene Identität aus den heroischen Geschichten der ersten Parteigeneration.
In Loushanguan in der Provinz Guizhou führen die Dorfbewohner vor einer Freilichttribüne mit viel Pyrotechnik und Musikuntermalung den historischen Kampf zwischen den Nationalisten und der revolutionären Roten Armee auf. In dutzenden Reisebussen werden die Besucher aus den umliegenden Provinzen an die historischen Stätten gekarrt. „Roter Tourismus“nennt sich das staatlich initiierte Programm, mit dem die Regierung die ideologische Bildung seiner Bevölkerung stärken und zugleich abgelegene Landstriche entwickeln will.
Ma Yi ist einer, der davon profitiert hat. Am Straßenrand führt der 56-jährige Kunsthandwerker einen unscheinbaren Betrieb für gewebte Stühle und Möbel. Dass Herr Ma mittlerweile Unternehmer mit einem Jahresumsatz von umgerechnet rund 500000 Euro ist, zählt zu den Erfolgsgeschichten des modernen Chinas. Der Sohn einer Bauernfamilie zog als junger Mann in die Industriestadt Guangzhou, um dort in den Fabriken sein Geld zu verdienen. Bis in sein Heimatdorf massiv investiert wurde und immer mehr kaufkräftige Touristen kamen. Ma Yi sah damals seine Chance: Mit seinem Ersparten kehrte er vor zehn Jahren in seine Heimat zurück. „Mittlerweile sind die meisten meiner Bekannten von früher Chefs von kleineren Unternehmen“, sagt er.
Mit dem Flugzeug geht es nach Yan’an in die Provinz Shaanxi: Trockene Berghänge in ausgewaschenen
Die alten Hütten stehen nur noch für die Touristen
Der Großvater hat Maos Rede noch erlebt
Ockertönen dominieren die Landschaft, beißender Wind peitscht über die Felder. An einer verlassenen Landstraße muss man schon genau Ausschau halten, um das unscheinbare Steinmonument zu sehen. Dort, wo Mao Tse-tung einst seine „Schneefeld-Rede“gegeben hat. Es war das Ende des Langen Marsches, einer Odyssee, die nur 7000 seiner Anhänger überlebt haben. Doch hier, in der Abgeschiedenheit, formierte sich die Rote Armee neu, um später das chinesische Volk hinter sich zu vereinen.
Jia Shi, ein Bauer mit tiefen Furchen im Gesicht, lebt seit mehreren Generationen in jener Ödnis. Sein Großvater, so erzählt der 83-Jährige bei warmem Wasser in seinem unverputzten Steinhaus, habe die Rede Maos noch persönlich erlebt. Der wirtschaftliche Aufstieg des modernen Chinas ist an ihm vorbeigezogen, die Hauptstadt Peking hat er nie besucht. Und doch blickt Jia Shi mit Stolz auf sein Leben, auf seine sieben Kinder und fünf Enkel.
Was für ihn der Lange Marsch bedeutet? Die entbehrungsreiche Zeit während seiner Jugend, ständiger Hunger und die Kälte. „Mein Leiden gehört jedoch längst der Vergangenheit an. Der Zukunft, die mir noch bleibt, blicke ich mit Freude entgegen.“