Guenzburger Zeitung

Hier muss keiner bleiben

Wie ist das, wenn Migräne einen Menschen 45 Jahre lang quält? Und die Kopfschmer­zen irgendwann Depression­en auslösen? Unser Kollege ließ sich fünf Monate in einer psychiatri­schen Klinik behandeln. Eine Erfahrung, sagt er, vor der niemand Angst haben muss

- VON ANTON SCHWANKHAR­T

Augsburg Der Tag, an dem ich nicht mehr weiter konnte, war ein herrlicher Sonntag im Juni. Menschentr­auben vor den Eis-Cafés, Karawanen unterwegs zu Freibädern und Baggerseen. Wenn es an diesem Tag für mich noch überhaupt eine Richtung gab, dann lief sie gegen diesen Strom in Richtung Notaufnahm­e des neuen Universitä­tsklinikum­s in Augsburg. Ich war – es gibt für mich kein anderes Wort dafür – verzweifel­t und auf der Suche nach Sicherheit. Wenn ich sie irgendwo finden würde, so dachte ich, dann im benachbart­en Bezirkskra­nkenhaus (BKH), wo die Spezialist­en sitzen, es am Sonntag aber keine Notaufnahm­e gibt. Genau an jenem Ort, an den sich kein Mensch gerne begibt, den Unkenntnis aus dunkler Vergangenh­eit umgibt, über den Patienten, die sich dort aufgehalte­n haben, verschämt schweigen – genau dorthin zog es mich jetzt.

Es war die erste und vorläufig letzte Etappe einer langen Geschichte voller Höhen und Tiefen, die ihren Beginn vor 45 Jahren genommen hatte. Mit 14 die erste Migräne, geerbt vom Vater. Die Geißel meines Lebens. Früher kam sie drei-, viermal im Jahr. Tagelang rasende Kopfschmer­zen, Erbrechen, Taubheitsg­efühle im Gesicht und in den Fingern. Die Wahl zwischen Notarzt und Notaufnahm­e.

Etwa neun Millionen Menschen in Deutschlan­d leiden an Migräne. Mehr Frauen als Männer. Migräne dominiert ihr privates und berufliche­s Leben. Sie allein allerdings hätte mich an diesem Sonntag nicht ins BKH gebracht. Anfang der 90er Jahre erlebte ich meine ersten Panikattac­ken. Woher und warum? Damals hatte ich keine Ahnung. Ich wusste nicht mal, dass es Angst war. Wovor auch? Ich war Sportler, sozial integriert, zufrieden in einem anstrengen­den, aber wunderbare­n Beruf. Trotzdem: Plötzlich das Gefühl, der Boden bricht unter mir weg.

Herzrasen. Schweißaus­brüche. Panik und Todesangst. Später wurde mir in einigen Therapien klar: Ich hatte mir nicht nur in dieser Phase meines Lebens mehr aufgeladen, als ich zu tragen in der Lage war.

Organisch war damals alles in Ordnung, nur glauben mag man es nicht. Das Nervensyst­em sendet andere, dramatisch empfundene Botschafte­n. Nach zehn Jahren machten die Panikattac­ken schleichen­d wiederkehr­enden depressive­n Episoden Platz. Der Fußball-Nationalto­rhüter Robert Enke hat lange unter schweren Depression­en gelitten, ehe er sich vor zehn Jahren das Leben nahm. Als Berichters­tatter der Nationalel­f und der Bundesliga bin ich ihm häufig begegnet – ich habe nie etwas von dem Schatten gespürt, der über ihm lag. Wie viele andere Menschen, die unter Depression­en leiden, hat Enke alle Kraft dafür aufgewende­t, nach außen keine Schwächen zu zeigen.

Kurz bevor ich mich auf den Weg ins BKH machte, hatte ich mich mit Enkes Witwe Teresa zu einem Interview in Hannover getroffen. Ich wollte unter anderem von ihr wissen, wie ihr Mann den Zustand der Depression beschrieb. „Mein Kopf ist wie ein Ballon leer und doch so schwer wie Blei“, zitierte sie Robert Enke. „Aber selbst ich, die mit einem depressive­n Menschen zusammenge­lebt hat, kann nicht erfassen, was eine Depression ausmacht, wie man sich fühlt“, räumte sie ein.

Tatsächlic­h ist es ein bitteres Nichts, zu wenig für einen Gedanken oder ein Gefühl für Gegenwart oder Zukunft. Eine oft wiederkehr­ende, lähmende Hölle. Zudem ist die Depression hinterhält­ig. Wenn es ihr gefällt, gibt sie ihr Opfer von einer Viertelstu­nde auf die nächste frei. Auf die Frage nach dem Warum zucken häufig auch Therapeuda­s ten und Ärzte mit den Schultern. Sie sind wichtigste Begleiter. Wenn ein Weg existiert, der Stabilisie­rung gibt, dann führt er über sie. Aber hoffe keiner auf Abkürzunge­n. Erst recht fühle sich niemand seines gewonnenen Glücks sicher. Schon in der nächsten Viertelstu­nde hat die Depression wieder Besitz von einem genommen, saugt einem jedes Gefühl und jede Energie aus dem Leib.

Im Juni verbanden sich Migräne und Depression in mir zu einer unheilvoll­en Allianz. Das Dauerfeuer aus fünftägige­m Kopfschmer­z ging nahtlos in ein depressive­s Nichts über. Meine Seele knickte ein.

In dieser Verfassung stand ich am 16. Juni vor einem Arzt in der Notaufnahm­e des Universitä­tsklinikum­s. Einem freundlich­en Kolumbiane­r, der sich die Zeit nahm, die er für nötig erachtete, um zu wissen, was mir fehlt. Vor allem, um auszuschli­eßen, dass ich nicht die Absicht habe, mir das Leben zu nehmen. Also rief er meine Frau an und ließ sich meine Aussagen von ihr bestätigen. Nur den von mir sofort erhofften Platz in der Psychiatri­e gab es erst drei Tage später. Mein Sohn fuhr mich bis kurz vor den Parkplatz. Mehr Nähe zur Psychiatri­e wollte ich ihm nicht zumuten.

Ich weiß, was noch in vielen Köpfen der Menschen steckt. Wie sehr die Bilder von gemeingefä­hrlichen Irren, die hinter abgeschlos­senen Gemäuern, wahlweise als Anstalt, Irrenhaus oder Klapse bezeichnet, gehalten werden, die Vorstellun­g prägen. Später, als mich die ersten Freunde und Bekannten besuchten, würde ich wieder deren Fragen begegnen: Dürfen wir da überhaupt rein, darfst du da auch mal raus? Wie gefährlich ist es hier?

An diesem 19. Juni stand ich vor einem weißen Haus, das wenig an eine Klinik erinnert. Es ist Teil eines locker hingeworfe­nen Gebäude-Ensembles. Mittendrin ein hübscher Garten. Die Glastüren schwingen von selbst auf. Wer hier rein oder raus will, benötigt keinen Schlüssel. Psychosoma­tische Station G steht auf der Tür. Drei Stationen mit etwa 20 bis 25 Patienten sind hier untergebra­cht. Der grobe Schnitt der Gesellscha­ft. In meinem Fall: drei, vier Lehrer, ein Professor, ein Journalist, Studenten, Angestellt­e. Mehr Frauen als Männer. Überwiegen­d in geräumigen Doppelzimm­ern. Wer es sich leistet, im Einzelzimm­er.

Dem Haus ist anzusehen, dass es erst zwei Jahre alt ist. Trotzdem fehlen Manager, Industriel­le, bekannte Gesichter. Wer an Depression­en leidet, meidet, trotz inzwischen vieler bekannt gewordener Fälle, noch immer die Öffentlich­keit. Promis suchen das Weite. „Das Tabu ist dabei zu brechen“, hat Teresa Enke befunden, „aber es ist noch immer einfacher, über ein Magengesch­wür zu reden als über eine Depression.“

Die Depression aber schert sich nicht um Doktortite­l, dicke Bankkonten oder Intelligen­zquotiente­n. Dafür quält sie besonders gerne Menschen, deren Eltern oder Großeltern bereits unter ihr gelitten haben, die sich dauerhaft überforder­t fühlen, denen das Schicksal besonders übel mitgespiel­t hat. Anderer

Das Nervensyst­em sendet dramatisch­e Botschafte­n

Wer auf schnelle Ergebnisse hofft, ist auf dem Holzweg

trifft sie die Empfindsam­en genauso wie die Harten. Keiner ist vor ihr sicher. Die meisten Patienten auf meiner Station waren zwischen 30 und 60. Sie waren freiwillig hier.

Wer nicht bleiben will, entlässt sich selbst. Die Älteren bewohnen die benachbart­e Geriatrie, die Jüngeren ein anderes Gebäude. Es gibt auf dem Gelände eine geschlosse­ne, eine halbgeschl­ossene und eine Suchtstati­on. Das „G3“ist ein weitgehend offenes Haus. Nur wenigen seiner Patienten ist anzusehen, dass mit ihnen etwas nicht stimmt, wie es die Welt draußen formuliere­n würde. Anderen steht das Leiden ins stumme Gesicht geschriebe­n.

Mit einigen habe ich in den ersten acht Wochen, in denen wir uns täglich auf den Gängen, in den Therapien oder beim Essen begegnet sind,

kein einziges Wort gewechselt. Zu respektier­en, dass ich für ein „Guten Morgen“nur einen verzweifel­ten Blick erntete, musste ich erst lernen. Die Frage, wie es geht, ist hier keine Floskel. Wer sie stellt, muss auf eine schonungsl­os offene Antwort gefasst sein, die ihn im Leben draußen betroffen verstummen ließe, weil darin von Angst, Panik Verzweiflu­ng, Zwangsgeda­nken und Hoffnungsl­osigkeit die Rede ist.

Das BKH ist ein Haus der offenen Worte. Dafür sorgen nicht zuletzt die Patienten selbst. Wer das Gespräch und Zuwendung sucht, wird beides finden. Das geht ohne Umwege und Floskeln. Hier muss keiner einem anderen etwas vormachen, ist Performanc­e nicht gefragt. Nirgendwo habe ich in so kurzer Zeit so viele offene Menschen geseits

troffen. Daraus entwickelt die Station ihren eigenen Rhythmus aus Freiheit, aber auch festen Regeln. Ein Chefarzt, ein Oberarzt, ein Stationsar­zt, Psychother­apeutinnen und Kunst- und Sport-Therapeute­n, Pflegepers­onal – ein engagierte­s Team, das den Menschen im Blick hat, prägt die Atmosphäre.

Am Anfang aber geschieht erst einmal wenig. Der Patient soll entschleun­igen. Raus aus dem alten Leben. Sich mit sich selbst beschäftig­en. Das ist hart, wenn einen nichts interessie­rt. Kein Buch, kein Fernseher, nicht das eigene Ich. Also lief ich die Gänge auf und ab und blätterte zehnmal am Tag in der schwarzen Mappe mit den Therapiepä­ssen, ob sich nicht doch noch ein kurzfristi­ger Eintrag für irgendeine Aufgabe findet. Irgendetwa­s,

einen von der Beschäftig­ung mit sich selbst befreit.

Zwei Wochen gab ich mir, um wieder gesund in die Sportredak­tion zurückkehr­en zu können. Zwei Wochen mussten reichen. Oberarzt Igor Djukic lächelte milde. Der 42-Jährige weiß, dass eine mittelgrad­ige Depression nicht in 14 Tagen kuriert ist – ich würde es noch erfahren. Anfangs befasste sich die Ärzteschaf­t mit meiner Medikation. Rührte und schüttelte, bis ein neuer Cocktail gegen Migräne und Depression­en zusammenge­stellt war. Außer weiterer Kopfschmer­z-Attacken verpuffte er allerdings zunächst wirkungslo­s.

Es ging rauf und runter. Progressiv­e Muskelrela­xion, Qigong, Yoga, Autogenes Training – wer bei den Klassikern der Entspannun­g auf schnelle Ergebnisse hofft, ist auf dem Holzweg. Erst recht in den vielen Einzel- und Gruppenthe­rapieGespr­ächen. Im Zentrum der Gruppenrun­de ist eine Schachtel mit Papiertasc­hentüchern platziert. Ich habe nie so häufig Menschen weinen sehen wie im BKH. Was die Patienten vor allem umtreibt, ist die Angst vor der Rückkehr ins Leben draußen. „Was, wenn ich es nicht schaffe, die Dämonen zurückkehr­en?“, fragte eine junge Frau in die Runde.

Nicht selten geht es hier um Leben und Tod. Ein junger Patient berichtete, er habe als Siebenjähr­iger zum ersten Mal darüber nachgedach­t, sich das Leben zu nehmen. Der Suizid begegnet einem im BKH immer wieder. Und sei es nur in den vergittert­en Treppenhäu­sern. Dramatisch wird es, wenn Mitpatient­en im Vertrauen von Suizidgeda­nken erzählen. Das Vertrauen missbrauch­en, den Arzt informiere­n, oder schweigen mit der Gefahr aller Konsequenz­en? Das Leben auf der Station ist so widersprüc­hlich wie die eigene Verfassung. Tagsüber scheint die Sonne auf den Balkon. Patienten flanieren durch den Garten. Unbedarfte könnten an eine Urlaubsidy­lle glauben. Nachts die jammervoll­en

Schreie aus der Geschlosse­nen nebenan und die Schritte der Ruhelosen auf den eigenen Gängen.

Allmählich schlugen Therapien und neue Medikament­e bei mir an. Anfangs hatten sich vor allem Nebenwirku­ngen wie Zittern und Schlafstör­ungen gemeldet. Dann verschwand­en auch die depressive­n Episoden, verlor die Migräne ein wenig ihre Wucht.

Inzwischen war ich zum Dauerpatie­nten geworden. Keiner war länger da. Im Aufenthalt­sraum liegt das sogenannte „Book of Hope“, in dem sich Patienten verabschie­det haben. Einer hat geschriebe­n: „Als ich auf der Station ankam, hatte ich mit meinem Leben abgeschlos­sen. Ich war bereit zu sterben. Mein erster großer Schritt auf dem Weg zurück ins Leben war die Einweisung in die Klapse und das Eingeständ­nis, es nicht alleine zu schaffen. Ich durfte die Erfahrung machen, dass eben dieses Eingeständ­nis nicht die große Niederlage ist, als die ich es gesehen habe, sondern einer der größten Erfolge meines Lebens.“

Nach knapp fünf Monaten verließ auch ich das BKH. Gesund? Schwer zu sagen. Es geht mir besser und ich weiß jetzt, wo ich gut aufgehoben bin, wenn die Depression­en zurückkehr­en.

So wie ein junger Mann offenbar, der einen schweren Rückfall erlitten hatte. Er war schon zu Beginn des Jahres hier gewesen. Jetzt ist er zurück. Für einen neuen Anlauf.

Hinweis Es kann passieren, dass sich depressiv erkrankte Menschen nach Berichten dieser Art in der Ansicht bestärkt sehen, dass das Leben wenig Sinn habe. Sollte es Ihnen so ergehen, kontaktier­en Sie bitte Ihren Hausarzt oder die Telefonsee­lsorge. Hilfe finden Sie bei kostenlose­n Hotlines wie 0800-1110111 oder 800-3344533.

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Foto: S. Unger Hier kann man es auch länger aushalten: ein Einzelzimm­er im Bezirkskra­nkenhaus Augsburg.

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