Hier muss keiner bleiben
Wie ist das, wenn Migräne einen Menschen 45 Jahre lang quält? Und die Kopfschmerzen irgendwann Depressionen auslösen? Unser Kollege ließ sich fünf Monate in einer psychiatrischen Klinik behandeln. Eine Erfahrung, sagt er, vor der niemand Angst haben muss
Augsburg Der Tag, an dem ich nicht mehr weiter konnte, war ein herrlicher Sonntag im Juni. Menschentrauben vor den Eis-Cafés, Karawanen unterwegs zu Freibädern und Baggerseen. Wenn es an diesem Tag für mich noch überhaupt eine Richtung gab, dann lief sie gegen diesen Strom in Richtung Notaufnahme des neuen Universitätsklinikums in Augsburg. Ich war – es gibt für mich kein anderes Wort dafür – verzweifelt und auf der Suche nach Sicherheit. Wenn ich sie irgendwo finden würde, so dachte ich, dann im benachbarten Bezirkskrankenhaus (BKH), wo die Spezialisten sitzen, es am Sonntag aber keine Notaufnahme gibt. Genau an jenem Ort, an den sich kein Mensch gerne begibt, den Unkenntnis aus dunkler Vergangenheit umgibt, über den Patienten, die sich dort aufgehalten haben, verschämt schweigen – genau dorthin zog es mich jetzt.
Es war die erste und vorläufig letzte Etappe einer langen Geschichte voller Höhen und Tiefen, die ihren Beginn vor 45 Jahren genommen hatte. Mit 14 die erste Migräne, geerbt vom Vater. Die Geißel meines Lebens. Früher kam sie drei-, viermal im Jahr. Tagelang rasende Kopfschmerzen, Erbrechen, Taubheitsgefühle im Gesicht und in den Fingern. Die Wahl zwischen Notarzt und Notaufnahme.
Etwa neun Millionen Menschen in Deutschland leiden an Migräne. Mehr Frauen als Männer. Migräne dominiert ihr privates und berufliches Leben. Sie allein allerdings hätte mich an diesem Sonntag nicht ins BKH gebracht. Anfang der 90er Jahre erlebte ich meine ersten Panikattacken. Woher und warum? Damals hatte ich keine Ahnung. Ich wusste nicht mal, dass es Angst war. Wovor auch? Ich war Sportler, sozial integriert, zufrieden in einem anstrengenden, aber wunderbaren Beruf. Trotzdem: Plötzlich das Gefühl, der Boden bricht unter mir weg.
Herzrasen. Schweißausbrüche. Panik und Todesangst. Später wurde mir in einigen Therapien klar: Ich hatte mir nicht nur in dieser Phase meines Lebens mehr aufgeladen, als ich zu tragen in der Lage war.
Organisch war damals alles in Ordnung, nur glauben mag man es nicht. Das Nervensystem sendet andere, dramatisch empfundene Botschaften. Nach zehn Jahren machten die Panikattacken schleichend wiederkehrenden depressiven Episoden Platz. Der Fußball-Nationaltorhüter Robert Enke hat lange unter schweren Depressionen gelitten, ehe er sich vor zehn Jahren das Leben nahm. Als Berichterstatter der Nationalelf und der Bundesliga bin ich ihm häufig begegnet – ich habe nie etwas von dem Schatten gespürt, der über ihm lag. Wie viele andere Menschen, die unter Depressionen leiden, hat Enke alle Kraft dafür aufgewendet, nach außen keine Schwächen zu zeigen.
Kurz bevor ich mich auf den Weg ins BKH machte, hatte ich mich mit Enkes Witwe Teresa zu einem Interview in Hannover getroffen. Ich wollte unter anderem von ihr wissen, wie ihr Mann den Zustand der Depression beschrieb. „Mein Kopf ist wie ein Ballon leer und doch so schwer wie Blei“, zitierte sie Robert Enke. „Aber selbst ich, die mit einem depressiven Menschen zusammengelebt hat, kann nicht erfassen, was eine Depression ausmacht, wie man sich fühlt“, räumte sie ein.
Tatsächlich ist es ein bitteres Nichts, zu wenig für einen Gedanken oder ein Gefühl für Gegenwart oder Zukunft. Eine oft wiederkehrende, lähmende Hölle. Zudem ist die Depression hinterhältig. Wenn es ihr gefällt, gibt sie ihr Opfer von einer Viertelstunde auf die nächste frei. Auf die Frage nach dem Warum zucken häufig auch Therapeudas ten und Ärzte mit den Schultern. Sie sind wichtigste Begleiter. Wenn ein Weg existiert, der Stabilisierung gibt, dann führt er über sie. Aber hoffe keiner auf Abkürzungen. Erst recht fühle sich niemand seines gewonnenen Glücks sicher. Schon in der nächsten Viertelstunde hat die Depression wieder Besitz von einem genommen, saugt einem jedes Gefühl und jede Energie aus dem Leib.
Im Juni verbanden sich Migräne und Depression in mir zu einer unheilvollen Allianz. Das Dauerfeuer aus fünftägigem Kopfschmerz ging nahtlos in ein depressives Nichts über. Meine Seele knickte ein.
In dieser Verfassung stand ich am 16. Juni vor einem Arzt in der Notaufnahme des Universitätsklinikums. Einem freundlichen Kolumbianer, der sich die Zeit nahm, die er für nötig erachtete, um zu wissen, was mir fehlt. Vor allem, um auszuschließen, dass ich nicht die Absicht habe, mir das Leben zu nehmen. Also rief er meine Frau an und ließ sich meine Aussagen von ihr bestätigen. Nur den von mir sofort erhofften Platz in der Psychiatrie gab es erst drei Tage später. Mein Sohn fuhr mich bis kurz vor den Parkplatz. Mehr Nähe zur Psychiatrie wollte ich ihm nicht zumuten.
Ich weiß, was noch in vielen Köpfen der Menschen steckt. Wie sehr die Bilder von gemeingefährlichen Irren, die hinter abgeschlossenen Gemäuern, wahlweise als Anstalt, Irrenhaus oder Klapse bezeichnet, gehalten werden, die Vorstellung prägen. Später, als mich die ersten Freunde und Bekannten besuchten, würde ich wieder deren Fragen begegnen: Dürfen wir da überhaupt rein, darfst du da auch mal raus? Wie gefährlich ist es hier?
An diesem 19. Juni stand ich vor einem weißen Haus, das wenig an eine Klinik erinnert. Es ist Teil eines locker hingeworfenen Gebäude-Ensembles. Mittendrin ein hübscher Garten. Die Glastüren schwingen von selbst auf. Wer hier rein oder raus will, benötigt keinen Schlüssel. Psychosomatische Station G steht auf der Tür. Drei Stationen mit etwa 20 bis 25 Patienten sind hier untergebracht. Der grobe Schnitt der Gesellschaft. In meinem Fall: drei, vier Lehrer, ein Professor, ein Journalist, Studenten, Angestellte. Mehr Frauen als Männer. Überwiegend in geräumigen Doppelzimmern. Wer es sich leistet, im Einzelzimmer.
Dem Haus ist anzusehen, dass es erst zwei Jahre alt ist. Trotzdem fehlen Manager, Industrielle, bekannte Gesichter. Wer an Depressionen leidet, meidet, trotz inzwischen vieler bekannt gewordener Fälle, noch immer die Öffentlichkeit. Promis suchen das Weite. „Das Tabu ist dabei zu brechen“, hat Teresa Enke befunden, „aber es ist noch immer einfacher, über ein Magengeschwür zu reden als über eine Depression.“
Die Depression aber schert sich nicht um Doktortitel, dicke Bankkonten oder Intelligenzquotienten. Dafür quält sie besonders gerne Menschen, deren Eltern oder Großeltern bereits unter ihr gelitten haben, die sich dauerhaft überfordert fühlen, denen das Schicksal besonders übel mitgespielt hat. Anderer
Das Nervensystem sendet dramatische Botschaften
Wer auf schnelle Ergebnisse hofft, ist auf dem Holzweg
trifft sie die Empfindsamen genauso wie die Harten. Keiner ist vor ihr sicher. Die meisten Patienten auf meiner Station waren zwischen 30 und 60. Sie waren freiwillig hier.
Wer nicht bleiben will, entlässt sich selbst. Die Älteren bewohnen die benachbarte Geriatrie, die Jüngeren ein anderes Gebäude. Es gibt auf dem Gelände eine geschlossene, eine halbgeschlossene und eine Suchtstation. Das „G3“ist ein weitgehend offenes Haus. Nur wenigen seiner Patienten ist anzusehen, dass mit ihnen etwas nicht stimmt, wie es die Welt draußen formulieren würde. Anderen steht das Leiden ins stumme Gesicht geschrieben.
Mit einigen habe ich in den ersten acht Wochen, in denen wir uns täglich auf den Gängen, in den Therapien oder beim Essen begegnet sind,
kein einziges Wort gewechselt. Zu respektieren, dass ich für ein „Guten Morgen“nur einen verzweifelten Blick erntete, musste ich erst lernen. Die Frage, wie es geht, ist hier keine Floskel. Wer sie stellt, muss auf eine schonungslos offene Antwort gefasst sein, die ihn im Leben draußen betroffen verstummen ließe, weil darin von Angst, Panik Verzweiflung, Zwangsgedanken und Hoffnungslosigkeit die Rede ist.
Das BKH ist ein Haus der offenen Worte. Dafür sorgen nicht zuletzt die Patienten selbst. Wer das Gespräch und Zuwendung sucht, wird beides finden. Das geht ohne Umwege und Floskeln. Hier muss keiner einem anderen etwas vormachen, ist Performance nicht gefragt. Nirgendwo habe ich in so kurzer Zeit so viele offene Menschen geseits
troffen. Daraus entwickelt die Station ihren eigenen Rhythmus aus Freiheit, aber auch festen Regeln. Ein Chefarzt, ein Oberarzt, ein Stationsarzt, Psychotherapeutinnen und Kunst- und Sport-Therapeuten, Pflegepersonal – ein engagiertes Team, das den Menschen im Blick hat, prägt die Atmosphäre.
Am Anfang aber geschieht erst einmal wenig. Der Patient soll entschleunigen. Raus aus dem alten Leben. Sich mit sich selbst beschäftigen. Das ist hart, wenn einen nichts interessiert. Kein Buch, kein Fernseher, nicht das eigene Ich. Also lief ich die Gänge auf und ab und blätterte zehnmal am Tag in der schwarzen Mappe mit den Therapiepässen, ob sich nicht doch noch ein kurzfristiger Eintrag für irgendeine Aufgabe findet. Irgendetwas,
einen von der Beschäftigung mit sich selbst befreit.
Zwei Wochen gab ich mir, um wieder gesund in die Sportredaktion zurückkehren zu können. Zwei Wochen mussten reichen. Oberarzt Igor Djukic lächelte milde. Der 42-Jährige weiß, dass eine mittelgradige Depression nicht in 14 Tagen kuriert ist – ich würde es noch erfahren. Anfangs befasste sich die Ärzteschaft mit meiner Medikation. Rührte und schüttelte, bis ein neuer Cocktail gegen Migräne und Depressionen zusammengestellt war. Außer weiterer Kopfschmerz-Attacken verpuffte er allerdings zunächst wirkungslos.
Es ging rauf und runter. Progressive Muskelrelaxion, Qigong, Yoga, Autogenes Training – wer bei den Klassikern der Entspannung auf schnelle Ergebnisse hofft, ist auf dem Holzweg. Erst recht in den vielen Einzel- und GruppentherapieGesprächen. Im Zentrum der Gruppenrunde ist eine Schachtel mit Papiertaschentüchern platziert. Ich habe nie so häufig Menschen weinen sehen wie im BKH. Was die Patienten vor allem umtreibt, ist die Angst vor der Rückkehr ins Leben draußen. „Was, wenn ich es nicht schaffe, die Dämonen zurückkehren?“, fragte eine junge Frau in die Runde.
Nicht selten geht es hier um Leben und Tod. Ein junger Patient berichtete, er habe als Siebenjähriger zum ersten Mal darüber nachgedacht, sich das Leben zu nehmen. Der Suizid begegnet einem im BKH immer wieder. Und sei es nur in den vergitterten Treppenhäusern. Dramatisch wird es, wenn Mitpatienten im Vertrauen von Suizidgedanken erzählen. Das Vertrauen missbrauchen, den Arzt informieren, oder schweigen mit der Gefahr aller Konsequenzen? Das Leben auf der Station ist so widersprüchlich wie die eigene Verfassung. Tagsüber scheint die Sonne auf den Balkon. Patienten flanieren durch den Garten. Unbedarfte könnten an eine Urlaubsidylle glauben. Nachts die jammervollen
Schreie aus der Geschlossenen nebenan und die Schritte der Ruhelosen auf den eigenen Gängen.
Allmählich schlugen Therapien und neue Medikamente bei mir an. Anfangs hatten sich vor allem Nebenwirkungen wie Zittern und Schlafstörungen gemeldet. Dann verschwanden auch die depressiven Episoden, verlor die Migräne ein wenig ihre Wucht.
Inzwischen war ich zum Dauerpatienten geworden. Keiner war länger da. Im Aufenthaltsraum liegt das sogenannte „Book of Hope“, in dem sich Patienten verabschiedet haben. Einer hat geschrieben: „Als ich auf der Station ankam, hatte ich mit meinem Leben abgeschlossen. Ich war bereit zu sterben. Mein erster großer Schritt auf dem Weg zurück ins Leben war die Einweisung in die Klapse und das Eingeständnis, es nicht alleine zu schaffen. Ich durfte die Erfahrung machen, dass eben dieses Eingeständnis nicht die große Niederlage ist, als die ich es gesehen habe, sondern einer der größten Erfolge meines Lebens.“
Nach knapp fünf Monaten verließ auch ich das BKH. Gesund? Schwer zu sagen. Es geht mir besser und ich weiß jetzt, wo ich gut aufgehoben bin, wenn die Depressionen zurückkehren.
So wie ein junger Mann offenbar, der einen schweren Rückfall erlitten hatte. Er war schon zu Beginn des Jahres hier gewesen. Jetzt ist er zurück. Für einen neuen Anlauf.
Hinweis Es kann passieren, dass sich depressiv erkrankte Menschen nach Berichten dieser Art in der Ansicht bestärkt sehen, dass das Leben wenig Sinn habe. Sollte es Ihnen so ergehen, kontaktieren Sie bitte Ihren Hausarzt oder die Telefonseelsorge. Hilfe finden Sie bei kostenlosen Hotlines wie 0800-1110111 oder 800-3344533.