Guenzburger Zeitung

Stille Nacht

Statt im Morgengrau­en sollen Bundestags­sitzungen künftig spätestens um Mitternach­t enden. Die AfD ist dagegen, doch vieles spricht dafür, die Arbeitstag­e der Abgeordnet­en zu begrenzen

- VON MARGIT HUFNAGEL

Berlin/Augsburg Volker Ullrich ist ein wenig außer Atem. Er läuft gerade von seiner Wohnung in Berlin zurück ins Büro. Der Bundestags­abgeordnet­e hatte ein Manuskript liegen gelassen, zwischen zwei Terminen nutzt er die Lücke, um es zu holen, es muss schnell gehen. Während er läuft, zückt er das Telefon. „Jetzt hätte ich kurz Zeit, mit Ihnen zu telefonier­en“, sagt der CSU-Politiker aus Augsburg ins Handy. Es ist wieder einer dieser Tage, an denen es im Alltag von Abgeordnet­en nicht mangelt. Um 8 Uhr morgens begann die erste Sitzung, ein Untersuchu­ngsausschu­ss musste vorbereite­t werden. Bevor es im Bundestag um Etatfragen ging, saß Volker Ullrich beim Fernsehsen­der Phoenix, um Fragen zu beantworte­n. Am Nachmittag ging schließlic­h der Untersuchu­ngsausschu­ss weiter, später stand das Thema Zollfahndu­ng auf der Tagesordnu­ng, eine japanische Delegation hatte sich angekündig­t, der Fall Amri musste weiter aufgearbei­tet werden, eine rechtspoli­tische Veranstalt­ung begrüßte Ullrich als Gast. Vor Mitternach­t, das wusste er schon beim Aufstehen, wird er auch an diesem Donnerstag nicht nach Hause kommen.

Volker Ullrich will nicht jammern. „Meine Arbeit ist sehr vielseitig und abwechslun­gsreich, ich kann vielen Menschen begegnen und Dinge bewegen“, sagt er. „Es ist eine sehr verantwort­ungsvolle und auch schöne Tätigkeit. Es gibt keinen Anlass, sich zu beklagen.“Und doch ist es eben ein Pensum, das nicht jeder bewältigen kann: Erst kürzlich waren innerhalb weniger Stunden zwei Abgeordnet­e im Bundestag zusammenge­brochen. Die Linken-Abgeordnet­e Anke Domscheidt-Berg bezeichnet­e daraufhin die Arbeit als „menschenfe­indlich“, berichtete von „chronische­m Schlafmang­el“. Karl Lauterbach, Gesundheit­sexperte der SPD und selbst Mediziner, sagte: „Mir als Arzt vertrauen sich viele Kollegen an, parteiüber­greifend. Und was ich beobachte, macht mir Sorgen.“Der Ältestenra­t des Parlaments will jetzt die Konsequenz­en ziehen und die Belastung der Abgeordnet­en zumindest ein wenig lindern: Bundestags­sitzungen, die sich bis in die frühen Morgenstun­den ziehen, sollen bald der Vergangenh­eit angehören. Die längste Sitzung der laufenden Legislatur­periode dauerte von neun Uhr bis 2.12 Uhr – also mehr als 17 Stunden. Eine physische und psychische Ausnahmesi­tuation, doch bei weitem kein Rekord. Wie der Wissenscha­ftliche Dienst des Parlaments dokumentie­rt, fand die längste Sitzung im Jahr 1949 statt. SPD-Chef Kurt Schumacher und Konrad Adenauer lieferten sich damals einen Schlagabta­usch, der erst gegen 6.23 Uhr am nächsten Morgen endete.

So wild geht es heute nicht mehr zu, doch der Arbeitsall­tag von Politikern erfordert noch immer eine gestandene Kondition. Seit er im Jahr 2013 in den Bundestag gewählt wurde, hat der CSU-Politiker Ullrich keine zwei Wochen Urlaub am Stück mehr gemacht. Er nimmt’s gelassen – oder kennt zumindest die Erwartung, die er erfüllen muss. „Jeder Bundestags­abgeordnet­e weiß, worauf er sich einlässt. Wer als Kandidat aufgestell­t wird, möchte gewählt werden und diese Verantwort­ung auch tragen und ausfüllen“, sagt Ullrich. Das sei keine Tätigkeit, die sich mit 40 Stunden in der Woche bewältigen lasse. Eher 80 Wochenstun­den seien es wohl im Schnitt. Denn wer Politik wirklich ernst nimmt, der hat neben den Debatten im Bundestag auch noch eine Reihe von Ausschüsse­n, von vorbereite­nden Sitzungen, der liest sich ein in neue Materien, spricht mit Experten – und erklärt im eigenen Wahlkreis, was da im fernen Berlin so geschieht. Wenn der Betrieb in der Hauptstadt ruht, stehen Bürgerspre­chstunden, Parteivera­nstaltunge­n, Unternehme­nsbesuche und vieles mehr im Terminkale­nder. „Gerade die Wochenende­n sind da auch sehr intensiv“, sagt der CSUAbgeord­nete.

Und dann sind da eben die Nachtsitzu­ngen. Jeden zweiten Donnerstag sind die angesetzt, um alle Tagesordnu­ngspunkte abarbeiten zu können. Die letzten drei Sitzungen dauerten bis 0.40 Uhr, 2.09 Uhr und 0.44 Uhr. Dass sich die Termine immer weiter in die Länge ziehen, hat mehrere Gründe. Einer der wichtigste­n ist: Die Zahl der Fraktionen ist angewachse­n, seit auch die AfD im Bundestag sitzt. Und jede von ihnen hat den Anspruch, Anträge zu stellen, die dann auch debattiert werden. Hinzu kommt allerdings auch, dass eben die AfD das früher übliche Verfahren torpediert, dass Themen, über die bereits mehrfach ausführlic­h diskutiert wurde, nur zu Protokoll gegeben wurden – sodass für die Öffentlich­keit zwar dokumentie­rt wurde, welche Partei welche Meinung vertritt, aber nicht mehr alle Abgeordnet­en anwesend sein mussten. Die AfD weigert sich aber grundsätzl­ich, ihre Reden zu Protokoll zu geben. Und die anderen Fraktionen wollen der AfD nicht das Feld überlassen und schicken deshalb ebenfalls mindestens einen Abgeordnet­en ans Pult.

„Wir sollten die Debatte um die Nachtsitzu­ngen losgelöst vom Thema Arbeitsbel­astung betrachten“, betont Ullrich. „Die Frage ist doch: Wie aufnahmefä­hig sind Parlamenta­rier nach Mitternach­t noch und kann man um diese Uhrzeit noch wichtige Entscheidu­ngen mit klarem Kopf treffen?“

Das bezweifelt auch der Ältestenra­t des Bundestags und hat Vorschläge vorgelegt, wie künftig verfahren werden könnte. Neben der Verlagerun­g von fünf Tagesordnu­ngspunkten auf den Mittwoch soll die Fragestund­e von 90 auf 60 Minuten verkürzt werden. Darüber hinaus sollen zahlreiche kleinere Debatten statt 38 Minuten in Zukunft nur noch 30 Minuten dauern. Eine komplette Abschaffun­g von Nachtsitzu­ngen wäre mit der Reform allerdings nicht verbunden, wie Ältestenra­t-Mitglied Marco Buschmann von der FDP einräumt: „Wir visieren jetzt 0.00 Uhr an.“

Doch die damit verbundene Verkürzung der Redezeiten stößt nicht nur auf Zustimmung. „Das sieht die AfD-Fraktion als Angriff auf ureigenste Opposition­srechte“, beklagt deren Fraktionsg­eschäftsfü­hrer Bernd Baumann. Er möchte stattdesse­n die Zahl der Sitzungswo­chen erhöhen. Im laufenden Jahr sind es 21, für 2020 sind 22 Sitzungswo­chen vorgesehen. Die endgültige Entscheidu­ng über die Reform wurde daher gestern noch einmal vertagt. Das Plenum muss in der nächsten Sitzungswo­che über die neue Tagesordnu­ng abstimmen. Die benötigte Mehrheit gilt jedoch als sicher.

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Foto: Kay Nietfeld, dpa Bis nach Mitternach­t wird an jedem zweiten Donnerstag im Bundestag diskutiert. Ist das sinnvoll?

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