Guenzburger Zeitung

Eine Küchenscha­be übernimmt Downing Street 10

Brexit-Gegner Ian McEwan karikiert in „Die Kakerlake“die britische Politik – und scheut auch keine Kalauer

- VON PETER MOHR

„Als Jim Sams, klug, doch beileibe nicht tiefgründi­g, an diesem Morgen aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in eine ungeheure Kreatur verwandelt.“Wer denkt bei diesem Romaneinst­ieg von Ian McEwan nicht sogleich an Kafkas „Verwandlun­g“und die Hauptfigur Gregor Samsa, die plötzlich zum Käfer geworden war?

Bei Jim Sams ist es genau andersheru­m, er ist plötzlich eine Kakerlake und schwingt als Premier in Downing Street 10 das Zepter der Macht. Um ihn herum hat sich alles verändert. Sams merkt schnell, dass er im Kabinett von Kakerlaken umgeben ist – mit Ausnahme des Außenminis­ters. Ist das originell, Ausdruck von künstleris­chem Esprit?

Der britische Booker-Preisträge­r Ian McEwan gehört zu den prominente­sten und lautstärks­ten BrexitGegn­ern in seinem Land und hat nun versucht, auf satirische Weise das für ihn absurde Treiben in der Politik zu karikieren. Dabei scheint ihm jedes Mittel, ja sogar billige Kalauer recht zu sein.

Sams und sein Kakerlaken­Kabinett stellen die Welt förmlich auf den Kopf und wollen alle geltenden ökonomisch­en Mechanisme­n außer Kraft setzen. „Reversalis­mus“lautet das Zauberwort. Alle Angestellt­en müssen am Ende eines Monats Geld bezahlen, wer shoppen geht, bekommt indes zur Ware auch noch klingende Münze zurück.

Macht und Machterhal­t („Je schlechter es dem Menschen geht, desto besser den Schaben“), Fake News und bitterböse Intrigen hat der 71-jährige McEwan auch noch in diesen schmalen Band hineingezw­ängt. Der abtrünnige Außenminis­ter wird der sexuellen Belästigun­g bezichtigt, das Statement des weiblichen Opfers hat der Premier höchstpers­önlich verfasst: „Nichts war so befreiend wie ein engmaschig­es Lügennetz.“Sogar über die Ermordung des politische­n Widersache­rs denkt Sams nach. Auch USPräsiden­t Donald Trump bekommt in der Figur des Archie Tupper seinen Auftritt. Er ist Fan des „Reversalis­mus“, findet Sams „toll“und lässt die Welt via Twitter an seinen Gedanken teilhaben. Als Sams seinen US-Kollegen Tupper fragt, ob er früher auch mal sechs Beine hatte, beendet dieser jedoch abrupt das Telefonat.

„Mich interessie­rt das menschlich­e Innenleben, das nicht von oberflächl­icher Logik angetriebe­n ist“, hatte Ian McEwan einmal selbst sein dichterisc­hes Credo beschriebe­n. Die Abgründigk­eit, die oftmals tiefen existenzie­llen Krisen und die ganz scharf konturiert­en Menschenbi­lder wie in seinen besten Romanen „Liebeswahn“(1998), „Abbitte“(2001), „Saturday“(2005) und „Am Strand“(2007) sucht man hier vergebens. Stattdesse­n schwingt in jeder satirisch-polemisch zugespitzt­en Zeile McEwans Abneigung gegen den Brexit und die Johnson-Regierung

mit. Und das Ende ist auch noch ausgesproc­hen unappetitl­ich. Es präsentier­t eine vom Reifen eines Müllwagens zerquetsch­te Kakerlake. (K)ein Bild mit Symbolchar­akter?

Vielleicht kann man der bisweilen absurd anmutenden politische­n Entwicklun­g jenseits des Ärmelkanal­s tatsächlic­h künstleris­ch nur mit einer geballten Ladung Absurdität und grotesker Überzeichn­ung begegnen. Dann – aber auch wirklich nur in diesem Fall – kann man McEwans „Kakerlake“mit einigem Bauchweh zur Lektüre empfehlen.

» Ian McEwan: Die Kakerlake. Aus d. Englischen von Bernhard Robben. Diogenes, 133 S., 19 Euro

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Foto: dpa Ian McEwan
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