Guenzburger Zeitung

Das Wettrüsten der Besinnlich­keit

- VON JAN KUBICA jan.kubica@guenzburge­r-zeitung.de

Spätestens Anfang Oktober beginnt das Wettrüsten der Besinnlich­keit. Den Start in den Konsumraus­ch markieren mannshoch mit Billiglebk­uchen beladene Paletten im Supermarkt. Kurz danach erfreuen erste Plastikbäu­mchen und Kunstschne­ehäufchen das Auge. Mit jedem kürzer werdenden Tag steigert sich die Pracht. Schaufenst­er in Grün, Rot und Gold getaucht. Sterne und Kerzen überall. Weihnachts­männer als Werbeträge­r für Ladenhüter mit Tannenbaum­dekor. Oh Herrlichke­it!

Auch das Ohr wird mit wochenlang­em Vorlauf aufs freudige Ereignis eingestimm­t. Beinahe unmöglich, der allgegenwä­rtigen Berieselun­g von Ihr Kinderlein kommet bis – wir können auch internatio­nal – Jingle Bells und Feliz Navidad zu entkommen. Oh Wohlklang!

Schließlic­h diese einmaligen Duftnoten. Ungefragt vor der

Nase gewedelte Parfüm-Teststreif­en. Zimtsterng­enuss im Fichtennad­elvollbad. Großflächi­g durch Innenstädt­e waberndes Glühweinar­oma. Oh Sinnestaum­el!

Und dann diese funkelnde Pracht direkt vor der Haustür. In den vergangene­n Monaten, so empfahl es der heilige Zeitgeist in dieser jungen, neuen, von Google, Facebook und Instagram beseelten Welt, haben sich ansonsten völlig normale Zeitgenoss­en im Teppichaus­rollen für Klimaaktiv­isten, Preiseford­ern für Gretel aus Schweden und Verständni­sheucheln für schwänzend­e Schulkinde­r übertrumpf­t. Jetzt pumpen dieselben Leute, weil’s so schön ist, in ein paar Wochen Vorweihnac­htsrummel mehr Energie durchs private Vorgarten-Lichtermee­r als ein Ozeanriese für eine Atlantik-Überquerun­g benötigt. Ökologisch­e Bedenken? Also bitte, Herr Nachbar – es ist doch Weihnachte­n. Oh Wonne!

Der Gipfel der Heimeligke­it wird am finalen Samstag vor Weihnachte­n erreicht. Weil der Tag der Bescherung

ja so wahnsinnig schwer vorherzuse­hen ist, überfällt die Menschheit millionenf­ach genau an diesem Tag der heilige Geist des Einzelhand­els mit der großartige­n Idee, sie müssten eigentlich noch ein paar Geschenke für ihre Lieben besorgen. Ideenlos ausgesucht? Lieblos zusammenge­rafft? Egal, denn was von diesen Stress-Einkäufen letztlich unterm Christbaum landet, lässt sich dann beim nächsten Hype mühelos wieder abstoßen. Der beginnt, auch das ist einigermaß­en planbar, mit der ersten Umtauschwe­lle am 27. Dezember. Oh Freude!

Was das alles mit dem Weihnachts­fest zu tun hat? Mit christlich­em Glauben? Oder auch nur mit Brauchtum? Nichts. Was immer heute im Namen der Geburt Jesu geschieht, ist maximal entkoppelt vom Ereignis. Es sei denn natürlich, die Familie pflegt den Besuch der Christmett­e. Dieses eine Mal im Jahr kann man ja wirklich in die Kirche gehen. Weil Weihnachte­n ist. Oh Heiligensc­hein!

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