Männlichkeit – was heißt das heute?
Eine Professorin für Gender Studies erklärt, wie sich das Bild des Mannes verändert hat – und was das bedeutet
Frau Villa Braslavsky, was gilt heute als „männlich“?
Paula-Irene Villa Braslavsky: Das lässt sich pauschal heute genauso gut oder wenig definieren wie schon immer. Was sich im Vergleich zu vor 100 oder auch vor 70 Jahren geändert hat, ist, dass wir uns heute überhaupt diese Frage stellen – in so einem Interview, aber auch im Alltag, in kleinen wie auch in politisch großen Debatten. So trivial sich das anhört, das ist schon eine Veränderung. Das heißt, Männlichkeit ist erklärungsbedürftig, ist unsicher, aber eben auch gestaltbar und vielfältiger geworden.
Also gibt es gar nicht die eine Männlichkeit?
Villa Braslavsky: Es gibt verschiedene Vorstellungen von Männlichkeiten, das ist gar nicht so neu. Aber es gibt eine bestimmte Vorstellung von richtiger, von eigentlicher, von vorgesehener Männlichkeit. In der Forschung wird das „hegemoniale Männlichkeit“genannt.
Wie sieht diese hegemoniale Männlichkeit aus?
Villa Braslavsky: Diese Vorstellung von Männlichkeit beinhaltet, der Familienernährer zu sein, also zuständig für das materielle, das ökonomische Wohl der Familie. Zur vorherrschenden Vorstellung gehört auch eine Art körperliche Panzerung. Darunter fällt, stark und unverwundbar zu sein à la „Indianer kennen keinen Schmerz“. Und schließlich gehört zur hegemonialen Männlichkeit, so trivial das klingen mag, sich abzugrenzen von vorherrschenden Vorstellungen von Weiblichkeit. Also Männlichkeit ist wesentlich NichtWeiblichkeit. Das mag komisch anmuten, ist aber im Alltag wie im Empirischen ganz wichtig.
Was gilt denn in diesen Vorstellungen als weiblich?
Villa Braslavsky: Zum Beispiel, sich fürsorglich um andere zu kümmern, zu trösten, einfühlsam zu sein und Trost zu spenden. Weich sein auch. Diese Sachen gelten als sehr unmännlich. Als männlich hingegen gilt autonom, unabhängig und in gewisser Weise, negativ formuliert, unberührbar zu sein für Bedürfnisse anderer. Zur hegemonialen Männlichkeit gehört auch eine Form von Ehrgeiz und Gewinnenwollen, also die Vorstellung, dass man im Wettbewerb zu anderen steht, um das größere Auto oder den besseren Job. Weiblichkeit hingegen setzt, so das Stereotyp, eher auf Kooperation, auf Harmonie, auf ein Miteinander – Männlichkeit eher auf ein Gegeneinander.
Was bedeutet diese hegemoniale Männlichkeit für den Alltag?
Villa Braslavsky: Das heißt nicht, dass Männer immer so sind, schon gar nicht jeder einzelne Mann. Es gibt auch andere Formen von Männlichkeit, sehr fürsorgliche, die sanft, berührbar sind. Aber die haben es im Alltag gewissermaßen schwerer, auch kulturell, in Filmen oder Serien. Die sind in der unterlegenen Position, werden als Besonderheiten dargestellt und teils lächerlich gemacht.
Warum ist das noch so? Es nehmen doch immer mehr Männer Elternzeit, sprich: Sie verhalten sich nicht dem hegemonialen Männlichkeitsbild entsprechend …
Villa Braslavsky: Um diese halb richtige Darstellung zu korrigieren: Ja, es nehmen immer mehr Väter Elternzeit, gerade auch in Bayern. Aber, und das ist ein wichtiges Aber: In der ganz überwältigenden Mehrheit nehmen sie die üblichen zwei Monate, die es braucht, um das Gesamtvolumen des Elterngeldes auszuschöpfen – nicht ein Jahr oder ein halbes. Viele Väter nehmen Elternzeit auch nicht, um im Alltag präsent zu sein, sondern überwiegend in den Sommermonaten oder um sich selbst etwas Gutes zu tun. Das wissen wir aus empirischen Studien. Dass mehr Väter Elternzeit nehmen, ändert gar nichts an der bisher bestehenden und auch weiter sehr stabilen Struktur, dass sich Mütter ganz überwiegend um das alltägliche Leben mit Kindern kümmern. Warum ich das so betone: Es ändert sich in der Hinsicht viel weniger, als diese eine Zahl suggeriert. Zur hegemonialen Männlichkeit gehört immer noch nicht, sich auf Familie wirklich ernsthaft, verbindlich, längerfristig, vollständig einzulassen – anders als Frauen.
Woher kommt das?
Villa Braslavsky: Aus der historischen Vorstellung von Weiblichkeit, vor allem aus dem 19. Jahrhundert. Da gab es Unmengen an Literatur darüber, wie die Frau ist, wie Mütter sein sollen, wie es in Familien zugehen soll, wie Weiblichkeit ist – Gelehrtentexte, Ratgeber, philosophische Abhandlungen. Damals bildete sich die Vorstellung heraus, dass es das Subjekt gibt, die Vernunft – also den idealtypischen Menschen. Und es gibt demgegenüber andere, nicht ganz so idealtypische Menschliche: zum Beispiel Frauen, Kinder oder Wilde. Deswegen gibt es so etwas wie die Anthropologie als Wissenschaft des Menschen und die Gynäkologie als Wissenschaft der Frau. Aber es gab zunächst keine und gibt bis heute kaum eine Wissenschaft vom Mann, weil der ja als das Allgemeine gedacht ist.
Menschlich und männlich bedeutete zu dieser Zeit also dasselbe?
Villa Braslavsky: Ja, historisch kommen wir aus einer Vorstellung, in der es das allgemein Menschliche gibt, das faktisch verschmolzen ist mit dem Männlichen, dem bürgerlich weißen, europäisch Männlichen. Die Idealvorstellung des Menschen in der Moderne ist vernunftbegabt, in der Distanz zur Natur, sich selbst verwirklichend, sich die Natur unterwerfend. Es gibt Menschen und es gibt die Natur außen herum, da gehören Tiere, Kinder und Frauen hin. Alles, was mit Fürsorge und Bedürfnissen von Lebendigkeit zu tun hat, Stillen, sich um Kinder kümmern, gehört seit dem 19. Jahrhundert in den Bereich des Weiblichen, des Privaten, des Natürlichen und nicht in den Bereich dessen, was der Vernunftmensch – also der Mann – tut.
Und dieses Bild hat Auswirkungen bis heute?
Villa Braslavsky: Das ist der Grund, warum wir noch immer denken „der Mensch“, „die Erwerbstätigkeit“.
Hinzu kommt die kapitalistische Struktur, die Erwerbstätigkeit als eigentliches Arbeitengehen sieht, das außer Haus stattfindet. Unsere Gesellschaften sind so organisiert, dass das, was wir als „Care“bezeichnen, also Fürsorge, sich Kümmern, überhaupt nicht im Zentrum steht. Historisch und immer noch weitestgehend wird das als privater Liebesdienst von Frauen gemacht, weil sie ja angeblich von Natur aus so disponiert sind.
Wird sich dieses Verständnis der Geschlechter langfristig ändern?
Villa Braslavsky: Das kann man nicht absehen. Man kann aber in der Gegenwart sehen, dass es Auseinandersetzung damit gibt. Ein Beispiel sind sogenannte „caring masculinities“, also fürsorgliche Männlichkeiten. Ob auf politisch-aktivistischer Ebene, auf kultureller Ebene in Filmen oder Serien oder auch in der Forschung wird sich damit viel beschäftigt, in die hegemoniale Form von Männlichkeit auch die Fürsorge zu integrieren und Männlichkeit nicht weiter nur als etwas zu definieren, was in Wettbewerbsform über die Welt herrscht. Das spielt auch in der Ökologie-Bewegung eine Rolle: Wenn wir ökologisch eine Wende vollziehen wollen, gilt auch, uns als Teil der Natur zu sehen und nicht als über sie Herrschende – und dazu gehören andere Vorstellungen von Männlichkeit. Das ist ein Beispiel.
Gibt es weitere Beispiele?
Villa Braslavsky: In sozialen Medien gibt es Väter, die sich engagieren und da sichtbar sind. Es gibt tolle Youtube-Kanäle oder Gruppen, gerade in den USA, die sich dem Väter-Empowerment widmen. Da finden sich zum Beispiel Videos, in denen Väter ihre Töchter frisieren, was ja eigentlich als klassische Frauenaufgabe gilt. Das hört sich so blöd, so trivial an, aber es hinterfragt im Kern sehr stark bestimmte Vorstellungen von Männlichkeit. Es gibt auch Bemühungen – unter anderem, weil es einen eklatanten Fachkräftemangel gibt – Männer in Berufe zu locken, die als Frauenberufe gelten, zum Beispiel Erzieher, Grundschullehrer oder Altenpfleger. Die sind bislang nicht so erfolgreich, aber vielleicht kommt das noch.
Das Verständnis von Männlichkeit kann sich also in Zukunft ändern?
Villa Braslavsky: Wenn das so weitergeht, kann es gut sein. Gleichzeitig, durchaus im Kontext rechtspopulistischer Politik, gibt es aber Gegenbewegungen, konkret nenne ich Björn Höcke und Donald Trump, die fordern, zu echter Männlichkeit zurückzukehren. Da heißt es, Männer sind Weicheier geworden, grün-linke Männer taugen nichts. Im rechtsextremen Bereich gibt es auch Gruppen, die auf gewaltförmige, soldatische, harte Männlichkeit setzen.
Sind Männer durch diese verschiedenen Ansprüche an sie verunsichert?
Villa Braslavsky: Aus empirischen Studien wissen wir, dass junge Erwachsene zwischen 17 und 25 sich durchaus mit der Frage auseinandersetzen, was Männlichkeit ist. Soweit ich das überblicke, wird der Umgang mit unterschiedlichen Formen, als Mann sein Leben zu leben, aber nicht als starke Verunsicherung artikuliert, sondern eher als einen Gewinn an Freiheit, an Gestaltungsmöglichkeiten, aber auch als Herausforderung, die Frage für sich zu klären. Gleichzeitig wissen wir, dass es im Alltag relativ undramatisch traditionell zugeht, bei Fragen der Partnerschaft oder dem Umgang mit Kindern.
Inwiefern?
Villa Braslavsky: Wir sehen seit vielen Jahren in vielen Studien eine Paradoxie: Einerseits sind junge Menschen, Männer wie Frauen, gleichermaßen an Gleichberechtigung orientiert. Wenn man sie fragt, sagen sie durch die Bank, dass das Geschlecht für sie keine Rolle spiele und sich Männer genauso um die Familie kümmern wie Frauen. Je formal gebildeter, desto stärker wird das formuliert. Gleichzeitig sehen wir, dass genau diese Paare, wenn sie Kinder haben, gar nicht so leben. Stattdessen teilen sie ganz geschlechtstypisch Arbeiten und Zuständigkeitsbereiche auf: Sie wird in Elternzeit gehen, sie wird in Teilzeit arbeiten. Er hingegen wird seine Erwerbsarbeit als Vater sogar noch erhöhen, also mehr Zeit außer Haus verbringen als mit der Familie – dieselben Paare, die vorher sagten, dass bei ihnen alles egalitär sei.
Woran liegt das?
Villa Braslavsky: Immer noch an einer sehr starken, wie wir sagen, „Naturalisierung der Geschlechtlichkeiten“, wenn auch weniger stark als zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Was genau bedeutet „Naturalisierung der Geschlechtlichkeiten“?
Villa Braslavsky: Wir haben immer noch eine sehr starke Prägung durch ein Muster, das da heißt, „die Natur sieht vor, dass …“. Es heißt, dass Frauen sich von Natur aus kümmern sollen und das auch können und wollen. Dass Frauen auch eher die Socken auf dem Boden liegen sehen und sie die stören. Diese Vorstellungen sind tatsächlich im Alltag ganz präsent und bedeuten, dass Männer, die anders sind, komisch angeschaut und verspottet werden – oder aber übermäßig gefeiert, wie der Mann auf dem Spielplatz, der Beifall bekommt.
Sind das denn wirklich nur Vorstellungen oder doch Fakten?
Villa Braslavsky: Diese „Natur“-Vorstellung ist nicht von der Natur gegeben. Die haben wir, da wir alle mehr oder weniger so aufwachsen, mit Vorbildern, Ideen, Ansagen und mit Normalisierung in Serien, Kinderund Schulbüchern. Deswegen glauben wir auch weiterhin, dass es von Natur aus so ist. Und deswegen sagen auch als Effekt die meisten Frauen, dass sie so gern zu Hause bleiben, wenn die Kinder klein sind, oder dass sie schneller aufräumen als der Mann und auch besser wissen, wie man das macht. Solche Sachen sind immer noch sehr geschlechtsspezifisch ausgeprägt durch eine sehr geschlechtsspezifische Erziehung, die aber gar nicht als Erziehung wahrgenommen wird. Die meisten Leute würden ja heutzutage sagen, dass das Geschlecht bei der Erziehung keine Rolle spielt – aber das tut es immer noch sehr stark. Diese Kopplung von Natur, die quasi eingeschrieben ist in Erziehungsformen und -inhalte, führt dazu, dass authentisch immer wieder dieselbe Struktur entsteht.
Lässt sich dagegen etwas tun, völlig unabhängig vom Geschlecht?
Villa Braslavsky: Es ist die Frage, ob man das überhaupt will. Als Soziologin sage ich deutlich: Das muss man den Menschen selbst überlassen. Das ist eine politische, auch eine gesellschaftliche Frage, aber vor allem eine Frage der individuellen Praxis. Wir können wissenschaftlich nicht beantworten, was für die Einzelperson Gleichberechtigung oder eine sinnvolle Lebensgestaltung ist. Wir Wissenschaftler können nur sagen, dass im Effekt bestimmte Praxen im Alltag zu wirklich wichtigen strukturellen Weichenstellungen führen.
Inwiefern?
Villa Braslavsky: Es ist das eine, zu sagen, dass man so gern beim Kind sein, sich Zeit nehmen und nicht so viel erwerbstätig sein möchte. Aber Frauen sollten mitbedenken, was das für die eigene Karriere, die Alterssicherung oder im Fall einer Scheidung heißt. Auch Männer sollten darüber nachdenken, was sie verpassen, wenn sie nur zwei Monate Elternzeit nehmen, um den Hobbykeller auszubauen, anstatt sich anderthalb Jahre voll aufs Kind einzulassen – und was dadurch vielleicht an Sinn, an Glück, an Zufriedenheit für sie und die Kinder verloren geht. Ob man dagegen etwas tun möchte, ist Privatsache. Aber man muss mitbedenken, welchen Preis man für welche Entscheidung zahlt.