Guenzburger Zeitung

Was wirklich in London geschah

Stunden nach dem Attentat werden verstörend­e Details bekannt: Der Täter nahm an einem Seminar teil. Dann stach er zu. Mutige Passanten stoppten ihn mit einem Walzahn und einem Feuerlösch­er. Jetzt streiten die Politiker

- VON KATRIN PRIBYL

London Es dauerte nur wenige Stunden, bis der Anschlag in London von der Politik vereinnahm­t wurde. Da half es auch nicht, dass sich der Vater des 25-jährigen Jack Merritt, eines der beiden Opfer, am Wochenende zu Wort meldete und seinen Sohn als „Champion der Underdogs“und „wunderbare Seele“pries, „die sich immer auf die Seite der Schwächere­n gestellt hat“. Jack hätte nicht gewollt, „dass sein Tod als Vorwand dafür missbrauch­t wird, noch drakonisch­ere Gefängniss­trafen zu verhängen oder Menschen unnötig einzusperr­en“, sagte der Vater. Doch da hatte Premiermin­ister Boris Johnson bereits härtere Maßnahmen und eine Verschärfu­ng der Gesetze gefordert. Man solle Terroriste­n einsperren und den Schlüssel wegwerfen, meinte der konservati­ve Regierungs­chef im Kampagnen-Modus gestern in der Sunday Times.

Es herrscht Wahlkampf auf der Insel. Am 12. Dezember bestimmen die Briten ein neues Parlament. Johnson und Labour-Opposition­sführer Jeremy Corbyn wetteifern, wer mehr Stärke, wer eine härtere Hand im Kampf gegen den Terrorismu­s demonstrie­ren kann. Die berührende­n Worte des trauernden Vaters gingen im Getöse und Gestreite unter.

Am Freitagnac­hmittag hatte der 28-jährige Brite Usman Khan zwei Menschen mit einem Messer getötet und drei weitere verletzt. Ausgerechn­et ein Mann, der 2012 wegen Terrordeli­kten verurteilt worden war. Ein Mann, der vorzeitig auf Bewährung entlassen worden war und seit Dezember 2018 eine elektronis­che Fußfessel getragen hatte.

Wie konnte das passieren? Das Justizsyst­em im Königreich muss sich unangenehm­e Fragen gefallen lassen. Die Umstände klingen makaber: Khan nämlich befand sich vor der Attacke auf einer Konferenz zum Thema Resozialis­ierung von Ex-Häftlingen in der Fishmonger­s’ Hall, einem Gebäude der Londoner Fischergil­de. Dort stach er nach dem Mittagesse­n unvermitte­lt und wahllos auf Teilnehmer und Organisato­ren der Veranstalt­ung ein. Jack Merritt, ein Mitarbeite­r der Kriminolog­ie-Abteilung der Cambridge-Universitä­t, betreute das Rehabilita­tionsprogr­amm und leitete das Seminar „Zusammen lernen“am Freitag. Neben ihm verlor eine Frau ihr Leben, deren Identität noch nicht bekannt gegeben wurde.

Die Briten sind geschockt über die Tat und die Hintergrün­de – und huldigen gleichzeit­ig „Helden“, die den Attentäter auf seiner Flucht über die nahe gelegene London Bridge überwältig­ten, bevor er von einem Sonderkomm­ando der Polizei erschossen wurde. Videos von Passanten zeigen, wie mehrere Männer Khan zusetzten, etwa der polnische Koch Lukasz, ein Augenzeuge aus der Fishmonger­s‘ Hall. Er hatte einen zur Dekoration angebracht­en, anderthalb Meter langen Stoßzahn eines Narwals von der Wand gerissen und ging mit diesem auf den Attentäter los. Ein weiterer Mann besprühte Khan mit dem Schaum eines

Feuerlösch­ers. Andere rangen den Terroriste­n zu Boden, obwohl er eine Art Sprengstof­fgürtel trug, der sich später als Attrappe entpuppte. Ein Polizist in Zivil konnte Khan das große Messer entreißen.

Die Terrorgrup­pe „Islamische­r Staat“teilte mit, für die Messeratta­cke verantwort­lich zu sein. Das Statement aber bedeute nicht, dass es eine direkte Verbindung zwischen Khan und der Organisati­on gebe, schränkte der Terror-Experte Peter Neumann vom Londoner King’s College ein. Der IS versuche seit einiger Zeit, „sogenannte einsame Wölfe zu inspiriere­n“, um dann die Taten für sich zu reklamiere­n.

Während für westliche Staaten potenziell­e Terroriste­n lange Zeit

„Unbekannte“waren, besteht laut Neumann heute und in naher Zukunft die Herausford­erung darin, jene möglichen Terroriste­n zu entdecken, die den Behörden im Grunde bekannt sind. Häftlinge, Rückkehrer, Dschihadis­ten-Veteranen, bedingt aus der Haft entlassene Täter – viele der in den letzten Jahren verhaftete­n Dschihadis­ten kämen in den nächsten zwei bis drei Jahren wieder frei, in Frankreich etwa über die Hälfte, so Neumann.

Boris Johnson forderte, Terroriste­n sollten mindestens 14 Jahre hinter Gittern verbringen. Es ergebe „keinen Sinn, wenn Menschen, die wegen terroristi­scher Straftaten verurteilt wurden, vorzeitig entlassen werden“, sagte der Premier, der in Wahlumfrag­en deutlich vor Corbyn liegt. Der Opposition­schef kritisiert­e die Regierung und verlangte eine „vollständi­ge Untersuchu­ng“. Die Umstände der vorzeitige­n Entlassung des Terroriste­n seien ein „komplettes Desaster“.

Khan war 2012 gemeinsam mit acht weiteren Tätern zunächst zu einer Mindesthaf­tstrafe von acht Jahren verurteilt worden. Die Gruppe hatte einen Bombenansc­hlag auf die Londoner Börse geplant. Ein Berufungsg­ericht hob die Urteile gegen Khan und zwei Mittäter im April 2013 auf und verhängte gegen den jetzigen Attentäter eine Freiheitss­trafe von 16 Jahren. Dem Londoner Polizeispr­echer Neil Basu zufolge wurde der Brite auf Grundlage einer „umfangreic­hen Liste von Auflagen“freigelass­en, an die er sich zunächst gehalten habe.

 ?? Foto: Yui Mok, dpa ?? Mitarbeite­r der Spurensich­erung suchen auf der London Bridge, die seit der Terroratta­cke am Freitag gesperrt ist, nach Hinweisen auf das Tatgescheh­en. Der Attentäter Khan hatte zwei Menschen erstochen.
Foto: Yui Mok, dpa Mitarbeite­r der Spurensich­erung suchen auf der London Bridge, die seit der Terroratta­cke am Freitag gesperrt ist, nach Hinweisen auf das Tatgescheh­en. Der Attentäter Khan hatte zwei Menschen erstochen.

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