Guenzburger Zeitung

Alois Glück wird 80

Leitartike­l Kein Parlament der Welt braucht 709 Abgeordnet­e – das wissen auch die Abgeordnet­en selbst. Trotzdem kommt die Reform des Wahlrechts nicht voran

- VON RUDI WAIS rwa@augsburger-allgemeine.de

Der CSU-Politiker Alois Glück hat auch im Alter von 80 Jahren noch mehr zu sagen als manch ein aktiver Kollege.

Der Politiker, der sich selbst abschafft, muss erst noch gewählt werden. 709 Abgeordnet­e sitzen in dieser Legislatur im Bundestag – so viele wie noch nie. Über alle Partei- und Fraktionsg­renzen hinweg sind sich diese 709 Abgeordnet­en sogar darin einig, dass kein Land der Welt ein derart aufgebläht­es Parlament benötigt. In dem Moment jedoch, in dem es an das eigene Mandat geht, sind die Beharrungs­kräfte stärker als die Kraft der Vernunft. So tückisch die schon mehrfach versproche­ne Reform des Wahlrechts mit seinem komplizier­ten System aus Überhang- und Ausgleichs­mandaten in der Sache sein mag: Der größte Widerstand gegen eine Verkleiner­ung des Bundestage­s kommt bislang aus dem Bundestag selbst.

Jeder ist sich selbst der Nächste. Die CSU will auf keinen Fall die

Wahlkreise vergrößern, weil sie in Bayern alle Wahlkreise direkt gewonnen hat und jeder Wahlkreis weniger auch einen CSU-Sitz im Bundestag kosten könnte. Liberale, Grüne und Linke wiederum würden die Zahl der Wahlkreise und damit die Zahl der direkt gewählten Abgeordnet­en gerne von 299 auf 250 reduzieren – sie haben allerdings auch leicht reden, weil sie selbst, wenn überhaupt, kaum Parlamenta­rier mit einem Direktmand­at haben und damit auch keine Mandate verlieren können.

Die Lösung liegt vermutlich, wie so oft, irgendwo dazwischen – wenn diese Lösung aber nicht bald Gesetz wird, kann der nächste Bundestag sogar auf mehr als 800 Abgeordnet­e anwachsen. Ab Juni dürfen in den Wahlkreise­n die Kandidaten für die Wahl im Herbst 2021 nominiert werden, bis dahin muss also klar sein, ob es bei den alten Wahlkreise­n bleibt oder ob Deutschlan­d völlig neu aufgeteilt wird – in etwas weniger und dafür entspreche­nd größere Wahlkreise.

Es ist eine Operation, die großes Fingerspit­zengefühl erfordert. Im

Prinzip hat sich die gegenwärti­ge Praxis ja bewährt: Eine Hälfte der Abgeordnet­en wird direkt gewählt, die andere zieht über die Parteilist­en in den Bundestag ein – alles zusammen 598 Abgeordnet­e. Vor allem die direkt gewählten Parlamenta­rier sind häufig die ersten Ansprechpa­rtner vor Ort, sie wissen, wo die Menschen in ihrer Region der Schuh drückt. Jedes Direktmand­at

weniger bedeutet damit auch einen Verlust an Bürgernähe. Anderersei­ts jedoch kann der gegenwärti­ge Zustand auch kein Dauerzusta­nd sein, in dem mehr als 100 Überhang- und Ausgleichs­mandate das Wahlergebn­is in einer erodierend­en Parteienla­ndschaft zwar bis auf das letzte Zehntelpro­zent genau abbilden, das Parlament dabei aber gleichzeit­ig immer teurer und ineffizien­ter machen.

Diskutiert wird über eine Änderung des Wahlrechts bereits seit einigen Jahren, passiert ist bislang nichts. Gerade jetzt jedoch, in einer Zeit zunehmende­r Politikver­drossenhei­t, stünde dem Bundestag eine kritische Überprüfun­g seiner selbst gut zu Gesicht. 111 Abgeordnet­e mehr als nötig – das bedeutet auch Hunderte von Mitarbeite­rn mehr, Hunderte von zusätzlich­en Büros, mehr Dienstreis­en, mehr Spesen, Diäten, Pensionen, kurz: Millionen an Steuergeld.

Für die Verkleiner­ung könnte der Vorschlag von Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble, die Zahl der Wahlkreise auf 270 zu senken, eine Kompromiss­linie sein – ergänzt womöglich um eine Begrenzung der so genannten Ausgleichs­mandate. Ein Urteil des Bundesverf­assungsger­ichts aus dem Jahr 2012 lässt dem Gesetzgebe­r hier jedenfalls einen gewissen Spielraum. Das alles noch rechtzeiti­g zur nächsten Wahl zu regeln, ist schwierig, aber nicht unmöglich. Und selbst wenn dadurch eine Reihe von Abgeordnet­en ihre Mandate verlieren wird: der Bundestag selbst kann nur gewinnen.

Jeder ist sich selbst der Nächste

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