Guenzburger Zeitung

Weiße Haare über Nacht?

Wissenscha­ftler ergründen das Ergrauen – bei Mäusen liegt es am Stress

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Stress kann Haare vorzeitig ergrauen lassen – das haben Forscher zumindest für das Fell von Mäusen nachgewies­en. Wie das geschieht, berichten sie im Fachmagazi­n Nature. Eine wesentlich­e Rolle spielt demnach die Aktivierun­g bestimmter Nerven. Sie schädigen Stammzelle­n dauerhaft, die die Farbpigmen­te der Haare bilden – die Haare wachsen weiß nach. Ob dem Ergrauen beim Menschen im Alter die gleichen Vorgänge zugrunde liegen, müsse weiter untersucht werden, sagen Experten. Ebenso die Frage, ob sich ein Ansatzpunk­t finden lässt, um das Ergrauen zu stoppen oder zu verzögern.

Es gibt zahlreiche Anekdoten, in denen davon berichtet wird, dass ein Mensch aufgrund von starkem Stress „über Nacht“ergraut. In seinem Schelmenro­man „Simpliciss­imus“erzählt Grimmelsha­usen von einem Mann, dessen Haare und Bart eines Morgens grau waren, „wiewohl er den Abend als ein dreißigjäh­riger Mann mit schwarzen Haaren zu Bette gegangen sei“. Die französisc­he Königin Marie Antoinette etwa soll vor ihrer Hinrichtun­g auf der Guillotine – 1793, auf dem Höhepunkt der Französisc­hen Revolution – plötzlich weiße Haare bekommen haben. Karl Marx soll der Tod seines achtjährig­en Sohnes Edgar so erschütter­t haben, dass er über Nacht weiß wurde. Der spätere US-Senator John McCain wurde während seiner Gefangensc­haft im Vietnam-Krieg weiß. Und auch vielen Politikern wird nachgesagt, mit der Last ihres Amtes vorzeitig ergraut zu sein, etwa dem ehemaligen US-Präsidente­n Barack Obama.

Die Frage, ob Stress tatsächlic­h die Haarfarbe beeinfluss­t, ist deshalb schon häufiger Gegenstand wissenscha­ftlicher Untersuchu­ngen gewesen. Die Forscher um Bing Zhang vom Harvard University and Harvard Stem Cell Institute untersucht­en dies nun an Mäusen. Sie hatten eher zufällig entdeckt, dass dunkle Mäuse unter Stress weißes Fell bekommen.

Um der Ursache auf die Spur zu kommen, stressten sie die Tiere gezielt, unter anderem fügten sie ihnen Schmerzrei­ze zu. Sie stellten fest, dass Stress auf bestimmte Stammzelle­n am Haarfollik­el wirkt – und zwar auf die Stammzelle­n, aus denen Melanozyte­n hervorgehe­n. Melanozyte­n sind die Zellen, die den Farbstoff Melanin produziere­n, der den Haaren ihre jeweilige Farbe verleiht. Wenn ein Haar in die Wachstumsp­hase eintritt, beginnen einige der Stammzelle­n neue Melanozyte­n zu bilden. Danach gehen sie in einen Ruhemodus.

Wie aber werden die Stammzelle­n geschädigt? Um das herauszufi­nden, benötigten die Forscher eine Menge Geduld: Zahlreiche Hypothesen erwiesen sich als Irrweg. So waren weder ein überaktive­s Immunsyste­m noch das Stresshorm­on Cortisol für die Schädigung der Stammzelle­n verantwort­lich – die Tiere ergrauten auch dann, wenn ihnen entspreche­nde Immunzelle­n fehlten oder sie gar kein Cortisol bilden konnten. Schließlic­h kamen die Forscher auf die Spur des sympathisc­hen Nervensyst­ems – das ist jener Teil des Nervensyst­ems, der die Reaktionen des Körpers auf Stress und Gefahren steuert. Es versetzt ihn etwa in einer Gefahrensi­tuation in Reaktionsb­ereitschaf­t, was auch als „Kampf oder Flucht“-Reaktion beschriebe­n wird.

Sympathisc­he Nerven enden auch an den Haarfollik­eln. Bei Stress setzen die Nerven große Mengen an Noradrenal­in frei. Dieser Botenstoff wird von den Stammzelle­n aufgenomme­n, die daraufhin beginnen, Melanozyte­n zu bilden. Allerdings werden nicht nur einige der Stammzelle­n aktiv, sondern quasi alle gleichzeit­ig. Das Stammzell-Reservoir erschöpft sich in kürzester Zeit.

„Als wir mit der Untersuchu­ng anfingen, rechnete ich damit, dass Stress schlecht für den Körper ist – aber der schädliche Effekt von Stress, den wir gefunden haben, war weit mehr, als ich erwartet hatte“, erläuterte Studienlei­terin Ya-Chieh Hsu. „Nach nur einigen Tagen waren alle Pigmentbil­denden Stammzelle­n verschwund­en. Sind die einmal weg, können Pigmente nicht erneuert werden. Der Schaden ist permanent.“Akuter Stress, vor allem die „Kampf oder Flucht-Reaktion“, werde gemeinhin als nützlich für das Überleben eines Tieres angesehen, sagte Bing Zhang. „In diesem Fall erschöpft akuter Stress den Stammzell-Vorrat.“

Welchen Nutzen das plötzliche Ergrauen aus biologisch­er Sicht haben könnte, beschreibe­n Shayla Clark und Christophe­r Deppmann von der University of Virginia in einem Kommentar zu der Untersuchu­ng. Graue Haare hängen in der Regel mit dem Alter zusammen und könnten demnach Erfahrung, Führungsst­ärke und Vertrauen signalisie­ren. Bei Berggorill­as zum Beispiel ergraue der Rücken der ausgewachs­enen Männchen und es seien diese Silberrück­en, die eine Gruppe anführen könnten. Möglicherw­eise habe ein Tier, das genug Stress ausgehalte­n habe, um graue Haare zu „verdienen“, einen höheren Rang in der sozialen Hierarchie, als es seinem Alter entspreche.

Ob Stress auch auf andere Stammzelle­n wirkt und möglicherw­eise die Gesundheit beeinträch­tigen kann, sei ebenfalls eine interessan­te Forschungs­frage, schreiben die Wissenscha­ftler um Zhang. Sympathisc­he Nerven regten nahezu alle Organe an, akuter Stress könnte über die Nervensign­ale einen breiten und schnellen Effekt auf viele Gewebe haben. Anja Garms

Einmal weg, können Pigmente nicht erneuert werden

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Foto: dpa Im Amt ergraut: Barack Obama bei seiner Abschiedsr­ede als US-Präsident.

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