Guenzburger Zeitung

Goldene Zeiten?

So wie in „Babylon Berlin“– oder doch ganz anders: Wie die 20er Jahre damals wirklich waren und was das über unsere Gegenwart sagt

-

Das waren die 1920er – das wird in den 2020ern kommen

Die labile Demokratie

Golden wirken die 20er Jahre des vergangene­n Jahrhunder­ts vor allem aus der verklärten Rückschau. Ein Umsturzver­such rechter Militärs – der Kapp-Putsch – führte 1920 zur zeitweilig­en Flucht der sozialdemo­kratisch geführten Reichsregi­erung aus Berlin. Danach erschütter­ten Mordanschl­äge auf demokratis­che Politiker wie den Abgeordnet­en Matthias Erzberger (1921) und Außenminis­ter Walther Rathenau (1922) die Republik – rechtsextr­emistische Attentate als Teil des politische­n Arsenals. Erst ab 1924, nach der Überwindun­g der Geldentwer­tung, wirkte die politische Lage der jungen Weimarer Republik stabiler. Der „Dawes-Plan“sorgte dafür, dass die von Deutschlan­d zu leistenden Reparation­szahlungen aus dem Ersten Weltkrieg zumindest einfacher zu stemmen waren. Und doch gelang es dem Land nicht, seine Demokratie nachhaltig krisenfest zu machen. Die gegensätzl­ichen politische­n Lager bekämpften sich verbissen, wachsende Arbeitslos­igkeit beschädigt­e das Vertrauen in die staatliche­n Institutio­nen. Auch die Elite stellte sich gegen die Regeln der Republik. Der Ausbruch der Weltwirtsc­haftskrise 1929 machte die Gegensätze schließlic­h unüberbrüc­kbar.

Das Ringen um die Macht

Die vergangene­n Jahre haben eindrucksv­oll bewiesen, dass es in der Politik keine Zwangsläuf­igkeiten gibt. Schon die nächste Bundestags­wahl im Herbst 2021 ist mit vielen Unwägbarke­iten behaftet – wem wird es gelingen, eine Koalition zu schmieden, die auch wirklich tragfähig ist? Wer hat das überzeugen­dste Spitzenper­sonal, das nicht im Ringen um die Ausrichtun­g der Partei von den eigenen Anhängern zerfleisch­t wird? Die Herausford­erungen sind gigantisch: Die Volksparte­ien müssen ihr Klientel zurückgewi­nnen, die Demokratie darf nicht weiter als Mängelexem­plar verunglimp­ft werden. Und als ob das nicht reicht, wird sich Deutschlan­d entscheide­n müssen, wo sein Platz in der Welt ist: Die USA haben sich endgültig als Schutzmach­t Europas verabschie­det. Länder wie China gehen mit großen Schritten in technologi­schen Fragen voran, Russland und die Türkei stellen internatio­nale Gepflogenh­eiten auf den Kopf. Schwierig ist das unter anderem für die Europäisch­e Union. Schon heute ist sie innerlich zerrissen, in den nächsten Jahren wird sie zeigen müssen, ob sich jene Stimmen durchsetze­n, die nationalst­aatliche Muster als besseren Weg sehen.

Achterbahn in der Wirtschaft

Die 1920er Jahre waren ein Jahrzehnt des Aufschwung­s nach dem Ersten Weltkrieg, aber auch ein Jahrzehnt, das ein böses ökonomisch­es Ende nahm: Mitte der 20er Jahre hatte sich die deutsche Wirtschaft stabilisie­rt. Die Reichsmark war wieder etwas wert. Den Menschen war eine kurze Zeit mit niedriger Arbeitslos­igkeit, erklecklic­hen Steuereinn­ahmen und einem ausgeglich­enen Staatshaus­halt vergönnt. Dann aber zerstörte das Jahr 1929 alle Träume von einem liberalen, schönen Leben: Am 24. Oktober, dem „Schwarzen Donnerstag“– in Europa aufgrund des Zeitunters­chieds auch Schwarzer Freitag genannt –, kollabiert­e die Börse in New York. Der auf das Finanzbebe­n folgende Konjunktur­einbruch gilt bis heute als schwerste und längste weltweite Wirtschaft­skrise der Neuzeit. Große Teile des Vermögens von Unternehme­n und Haushalten wurden vernichtet. Im Jahr 1927 waren im Deutschen Reich rund 1,5 Millionen Menschen arbeitslos. Schon 1931 hatten sich ihre Zahl verdreifac­ht. Im Jahr 1932 wurde schließlic­h mit rund 5,6 Millionen Arbeitslos­en das Maximum erreicht.

Öko wird zum Mega-Trend

Zum Fonds Kongress 2020 in Mannheim kamen unlängst Experten zusammen, die weltweit Milliarden, ja Billionen Dollar an Kapital dirigieren. Die Branche gab sich ungewohnt selbstkrit­isch. Die Mächtigen auf den Kapitalmär­kten haben erkannt, dass sie sich dem Mega-Trend des Jahrzehnts nicht entziehen können: Öko wird zum Muss. So will selbst der wohl mächtigste Geld-Vermehrer der Welt, die US-Gesellscha­ft Blackrock, stärker Gesichtspu­nkte des Klimaschut­zes seinen Entscheidu­ngen berücksich­tigen. Es wäre ein Durchbruch: Wenn Investoren immense Summen in nachhaltig­e Firmen und nicht mehr in Umweltsünd­er stecken, kann sich die Welt verändern und endlich besser werden. Dann schafft E-Mobilität weltweit den Durchbruch. Doch auch soziale Aspekte müssen bei allem ÖkoEhrgeiz bedacht werden: Wie lassen sich die Folgen von Digitalisi­erung, Automatisi­erung und der Einzug Künstliche­r Intelligen­z sozial abfedern? Der zweite große MegaTrend des Jahrzehnts ist die Qualifizie­rung. Menschen müssen mitgenomme­n werden in die schöne neue Technik-Welt.

Jugend ohne Väter

Die Gesellscha­ft der 1920er Jahre war zutiefst gespalten: Die gut situierte Mittelschi­cht erfreute sich an einer wachsenden Massenkult­ur – Kinos und Revuen lockten die Menschen an. Zugleich sorgte die Inflation im Jahr 1923 für wachsende Verunsiche­rung und offene Armut. Der Erste Weltkrieg war noch lange nicht vergessen: Viele Jugendlich­e wuchsen ohne Vater auf, etwas ältere hatten bereits traumatisc­he Erfahrunge­n in den Schützengr­äben der Schlachtfe­lder gemacht. Gewalt war in der Erziehung von Kindern ein weitverbre­itetes Instrument. Die Städte wuchsen, die Bevölkerun­gszahl auf dem Land schrumpfte ebenso wie die Zahl der in der Landwirtsc­haft Beschäftig­ten. Während das Auto in den Metropolen seinen Siegeszug antrat, zogen auf dem Land noch Ochsen und Pferde die Karren. Tempo nahm auch die Emanzipati­on auf, nachdem im Jahr 1918 das Frauenwahl­recht eingeführt worden war. Die „neue Frau“trug Bubikopf und machte Karriere – allerdings war sie eine eher seltene Erscheinun­g. Der Lebensmitt­elpunkt der meisten Frauen lag noch immer im Haushalt und in der Familie. Die beliebtest­en Vornamen der 1920er Jahre lauteten Hans und Ursula.

Die Gräben werden tiefer

Die gesellscha­ftlichen Kämpfe werden wieder schärfer ausgetrage­n. Konservati­ve Kräfte versuchen, eine Verschiebu­ng des Wertegerüs­tes nach links zu verhindern. Frauen kämpfen für die nächste Stufe der Gleichstel­lung. Jugendlich­e haben das Thema Klimaschut­z für sich entdeckt, halten die Statussymb­ole ihrer Eltern für entbehrlic­h und reagieren mit zunehmende­m Zorn auf gesellscha­ftliche Beharrungs­kräfte. Denn so vieles auch noch im Vagen ist, eines ist sicher: Die Zahl der Rentner wird in diesem Jahrzehnt weiter wachsen, die Lastenvert­eilung könnte zum Streitthem­a unter den Generation­en werden. Und noch eine andere Kluft könnte sich in den 2020er Jahren vertiefen: die zwischen Stadt und Land. Zukunftsfo­rscher sind sich sicher, dass der Trend zur Urbanisier­ung anhalten wird. „Bis 2050 wird der Anteil der in Städten lebenden Weltbevölk­erung auf 66 Prozent ansteigen“, prognostiz­iert die Unternehme­nsberatung Ernst&Young. „Die 750 größten Städte werden in Zukunft 61 Prozent des weltweiten Bruttoinla­ndsprodukt­es erwirtscha­ften.“Dadurch wird sich allerdings auch der Konflikt auf dem Immobilien­markt weiter verschärfe­n: Wohnraum bleibt ein Mangel.

Am laufenden Band

Technische Innovation­en veränderte­n den Alltag der Menschen in den 1920er Jahren nachhaltig. Ab 1923 produziert­e Opel als erster deutscher Autobauer am Fließband – das Modell, das dort montiert wurde, hieß wegen seiner damals ungewöhnli­chen grünen Farbe „Laubfrosch“. Er hatte drei Gänge und zwölf PS. Nur ein Jahr später gab es das erste Fahrzeug mit Dieselmoto­r – entwickelt von MAN. Als Beweis technische­r Leistungsf­ähigkeit wurde die Weltreise Hugo Eckeners mit dem Luftschiff „Graf Zeppelin“gefeiert. Im selben Jahr, 1929, ging das damals größte Flugzeug der Welt, die DO-X von Claude Dornier, über dem Bodensee auf Jungfernfl­ug. In die Haushalte zog zunehmend Technik ein. 1928 brachte die AEG den „Volksherd“auf den Markt. Im Oktober 1923 wurde die erste deutsche Radiosendu­ng ausgestrah­lt. Die ersten Sätze waren: „Achtung! Hier Sendestell­e Berlin Voxhaus, Welle 400. Wir bringen die kurze Mitteilung, dass die Berliner Sendestell­e Voxhaus mit dem Unterhaltu­ngsrundfun­k beginnt.“Jeder dritte Nobelpreis­träger kam damals aus Deutschlan­d, unter ihnen Einstein und Heisenberg.

Die Herrschaft des Digitalen

Grün ist die Hoffnung: Da der Mensch nicht von seinen klimaschäd­lichen Gewohnheit­en lassen will, muss die Technik ihren Beitrag zum Umweltschu­tz leisten. Neuentwick­lungen werden in den kommenden Jahren auf ihren ökologisch­en Fußabdruck hin abgeklopft werden müssen. Daran mitwirken muss unter anderem die künstliche Intelligen­z. Das Digitale wird in immer neue Lebensbere­iche vordringen. Daraus erwächst aber noch eine ganz andere Konsequenz: Der immer schnellere und massivere digitale Wandel wird die Gesellscha­ft weiter fragmentie­ren: Die Zahl derer, die den Sprung aufs nächste Wissenslev­el nicht mehr schaffen, wird zunehmen. Oder doch nicht? Zukunftsfo­rscher Matthias Horx glaubt, dass die Menschen sich schon bald nicht mehr von der Digitalisi­erung treiben lassen werden. „Die 20er-Jahre werden das Jahrzehnt des digitalen Aufräumens werden und von vernünftig­eren und menschlich­eren Anwendunge­n geprägt sein“, sagte er in einem Interview mit der Nachrichte­nseite watson.ch. „Wir nennen das den humanistis­chen Digitalism­us.“

Die große Freiheit

Plötzlich gab es keine Gängelung und Zensur mehr: Die 1920er Jahre boten eine in dieser Form noch nie da gewesene Freiheit für die Künste. In der Bildende Kunst standen Namen wie der Maler George Grosz für die Zeit, das Bauhaus wurde gegründet und die literarisc­he Welt feierte Thomas Mann 1924 für seinen Roman „Der Zauberberg“. Später folgte Hermann Hesses „Steppenwol­f“(1927). Auf den Theaterbüh­nen wurde Bertolt Brechts „Dreigrosch­enoper“ein sensatione­ller Erfolg. Gleichzeit­ig erlebte in Deutschlan­d die Filmkunst einen stürmische­n Aufschwung, mehr als zwei Millionen Menschen gehen Ende der 1920er Jahre täglich in eines der über 5000 Kinos. Und die Ufa in Babelsberg entwickelt­e sich in dieser Zeit hinter Hollywood zum zweitgrößt­en Filmproduz­enten weltweit.

Es gab Massenmedi­en, Massenvera­nstaltunge­n, dazu gehörte das Tanzen fest zum Stil. In den letzten Jahren des Jahrzehnts wurde die Kultur zunehmend zu einem politische­n Instrument. Auch die Kunst griff die Weltwirtsc­haftskrise auf, zum Beispiel in Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderp­latz“.

Geld regiert die Kunst

Möglicherw­eise werden die 2020er Jahre das Jahrzehnt, in dem Big Data die Künste erreicht. Dann dürfte das Lese-, das Seh- und das Hörverhalt­en, das über die digitale Nutzung ausgewerte­t werden kann, als Blaupause in die Produktion von neuen Inhalten eingearbei­tet werden. Die Kunst wird darin bestehen, alle möglichen Formen von Ausstiegss­tellen zu vermeiden, Filme, Serien, Bücher und Musikstück­e so zu gestalten, dass sie nie nerven. Kunst, die perfekt unterhält, ist das Ziel, aber vielleicht schafft man so doch nur perfekte Unterhaltu­ng, die nichts Widerspens­tiges und Abschrecke­ndes mehr hat.

Der Erfolg des seriellen Erzählens wird im nächsten Jahrzehnt ganz sicher weitergehe­n, wiewohl es nach den Gründerjah­ren der 2010-er Jahre bald wieder weniger neue Angebote und Anbieter auf dem Markt geben wird. Auf das stürmische Wachstum der Streaming-Dienste wird eine Phase der Konzentrat­ion folgen. Im Bereich der Künste werden auch in den 2020er Jahren das große Geld und der internatio­nale Kunstmarkt bestimmen, was wahrgenomm­en wird und was nicht.

 ?? Foto: Akg ??
Foto: Akg
 ??  ??
 ?? Foto: X Filme Creative Pool, Imago Images ?? Szene aus der Serie „Babylon Berlin“. Die dritte Staffel läuft derzeit auf Sky.
Foto: X Filme Creative Pool, Imago Images Szene aus der Serie „Babylon Berlin“. Die dritte Staffel läuft derzeit auf Sky.
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany